Netflix‘ Amanda Knox

Dass reale Kriminalfälle zu faszinieren wissen, ist keine neue Erkenntnis. Netflix hat das Potential, das in Dokus über tatsächliche Verbrechen steckt, nicht als erstes erkannt, aber der Streamingdienst hebt diese Form des Reality-TV mit aufwendigen und exklusiven Produktionen auf ein neues Level. Nach dem Erfolg von „Making a Murderer“ macht Netflix jetzt mit einer Doku über den Kriminalfall Amanda Knox auf sich aufmerksam.

Amanda Knox

Hinter Gittern

Natürlich beantwortet der knapp 90-minütige Film die Frage, ob die amerikanische Austauschstudentin Amanda Knox und ihr damaliger Freund Raffaele Sollecito im Jahr 2007 in Perugia, Italien Amandas britische Mitbewohnerin Meredith Kercher ermordet haben, nicht. Womöglich wird diese Frage niemals zu aller Zufriedenheit geklärt werden. Viele glauben an Amandas (und Raffaeles) Unschuld, viele andere halten Amanda für eine manipulative, heimtückische Verbrecherin. Die Suche nach der einen Wahrheit ist im Fall Amanda Knox zu einem Verwirrspiel der persönlichen Wahrheiten geworden, der Ansichten, Meinungen und Interpretationen. Emotionen überlagerten stichhaltige Beweise. Diese fatale Entwicklung beleuchtet die Netflix-Doku von 2016. Zu Wort kommen vor allem Amanda und Raffaele selbst, der italienische Chefermittler Giuliano Mignini und der britische Boulevard-Journalist Nick Pisa.

Amanda Knox und der ruinierte Ruf

BlickDie Augen eines Verdächtigen sind keine Beweismittel. Dies sagt Amanda Knox im Laufe der Netflix‘ Doku und sie hat völlig Recht damit. Verbrecher werden auf Basis von Fingerabdrücken, DNA-Spuren, Zeugenaussagen, Geständnissen oder anderen Beweisen rechtskräftig verurteilt, nicht aufgrund ihrer Verhaltensweisen oder ihres Lebensstils. So sollte es zumindest sein. Im Fall von Amanda Knox waren die wissenschaftlichen Beweise mehr als dürftig bis hin zu erschreckend unsachgemäß. Das Video von der ersten Tatortbegehung zeigt, wie zahllose Personen ohne Schutzkleidung einfach raus- und reinlaufen. Auf den Aufnahmen ist sogar zu hören, wie sich einer der Ermittler über diese Zustände beschwert. Bei der dünnen und fragwürdigen Beweislage schienen ganz andere „Fakten“ gegen Amanda zu sprechen: ihre Augen, ihr Verhalten am Tatort oder bei Befragungen, ihre Ausdrucksweise, ihre Lebensart, einfach ihre Persönlichkeit. Wer braucht schon ordnungsgemäß erfasste DNA-Spuren bei einer Verdächtigen, deren Augen kalt erscheinen?

Die internationale Presse, die deutsche eingeschlossen, nahm den Fall dankbar auf. Bald kursierten in den Zeitungen und Blogs dieser Welt die wildesten Geschichten zu dem Fall. Von Amanda, dem „Engel mit den Eisaugen“, entstand das Bild einer wunderschönen jungen Frau mit äußerst dunklen Trieben, unstillbaren sexuellen Gelüsten und einem gefährlichen Einfluss auf das männliche Geschlecht. Die italienische Justiz rekonstruierte den Fall folgendermaßen: Das Opfer Meredith Kercher soll Amanda Knox wegen deren lasterhaften Lebenswandels zur Rede gestellt haben, woraufhin Amanda zwei Männer (ihren Freund und einen Mann namens Rudy Guede) dazu brachte, ihr dabei zu helfen, Meredith zu missbrauchen und brutal zu ermorden. Eindeutig mit dem Tatort in Verbindung bringen lässt sich aber nur der vorbestrafte Rudy Guede. Dafür, dass er und Amanda oder er und Raffaele sich überhaupt kannten, liegen keine Belege vor. Hat Amanda zwei unterschiedliche Männer, die nie irgendwo zusammen gesehen wurden und kein gemeinsames Umfeld haben, durch ihre Verführungskunst dazu gebracht, spontan mit ihr ein Mädchen zu töten? Dazu kommt mir der Begriff „Hexenjagd“ in den Sinn.

Insbesondere der zu Wort kommende Chefermittler Giuliano Mignini wirkt in seinen ganzen Ansichten derart altmodisch und voreingenommen, dass man nur den Kopf schütteln kann. Für ihn war Meredith eine Ausgeburt an Tugend, wohingegen Amanda die Sünderin ist, die es nicht ertragen kann, den Spiegel vorgehalten zu bekommen. Die Tugendhafte und die Lasterhafte. Das klingt nach 1507, nicht 2007 und weckt daher Beklemmung. Der Schuldspruch gegen Amanda wurde in letzter Instanz vom Obersten Italienischen Gerichtshof zurückgenommen, nicht nur aus „Mangel an Beweisen“, sondern wegen „Unschuld“. Das ist ein wichtiger Unterschied. Nach Ansicht des höchsten Gerichts hat sie die Tat nicht begangen. Die erste Verurteilung ist demnach unter anderem auf offenkundige Ermittlungsfehler, Unterlassungen, Medienhype und auf den Druck, schnelle Ermittlungsergebnisse zu erzielen, zurückzuführen.

Die Schuldfrage

JustizErgreift die Doku Partei für Amanda Knox? Man kann es so auslegen, denn es fällt einem nach der Betrachtung schon sehr schwer zu glauben, dass Amanda die Tat begangen hat, aber nicht, weil sie besonders sympathisch präsentiert wird. Die Doku macht sehr wohl deutlich, dass Amanda damals ziemlich unreif war, ihr der Tod von Meredith persönlich nicht sonderlich nahe ging und sie während der Ermittlungen Dinge gesagt und getan hat, die nicht korrekt waren und die sie nicht restlos überzeugend erklären kann. Nur wer weiß, wie man selbst in einer solchen Lage reagieren würde, dazu noch als junges Mädchen allein in einem fremden Land? Ich kann nicht sagen, ob Amanda Knox wirklich unschuldig ist, aber es bleibt festzuhalten, dass es keine klaren Beweise gibt, die eine Verurteilung rechtfertigen, und das weder der von den Ermittlern beschriebene Tatablauf noch das dargestellte Motiv überzeugen. Hinzukommen die Entgleisungen der Presse, die den Fall noch mehr vergiftet haben. Es muss in einem Gerichtsprozess um eindeutige Beweise gehen, nicht um voreingenommene Ansichten über einen Verdächtigen. Sollte Amanda irgendwie an der Tat beteiligt gewesen sein, dann wurden keine stichhaltigen Beweise ermittelt und kein glaubwürdiger Tathergang rekonstruiert. Es wird dennoch weiterhin Menschen geben, die an ihrer persönlichen Wahrheit zu diesem Fall festhalten.

Was bleibt?

Eine junge Frau ist Opfer eines schrecklichen Verbrechens geworden. Über sie wird allerdings kaum gesprochen, weil sie selbst nichts mehr sagen kann. Eine andere junge Frau wurde der Tat bezichtigt, von der Presse diffamiert, verurteilt, eingesperrt und wieder entlassen. Die Ermittler waren teilweise überfordert, es gab Unterstellungen, zwischen Italien und den USA flogen politische Spitzen. Es gibt die Wahrheit noch, aber die Umstände und die beteiligten Personen machen es fast unmöglich, sie zu finden. Das ist die große Tragik.