„Lass uns mal ein Selfie machen, Opa!“ Familienfotos sind heute zwar noch immer schön, aber nicht mehr wirklich etwas Besonderes. Über What’s App schicken sich Familienmitglieder im Minutentakt Bilder zu. Dazu müssen sie sich nicht einmal in derselben Zeitzone aufhalten. Um die ganze Sippschaft gemeinsam auf ein Bild zu bekommen, hilft im Zweifelsfall Photoshop. Alte Familienfotos offenbaren eine andere Atmosphäre. Manchmal musste ein Bild mit Kind und Kegel für die nächsten 15 Jahre reichen.
Es gibt verschiedene Kategorien, in die sich alte Familienfotos einordnen lassen. Die wohl offensichtlichste Unterteilung, die freilich ebenso für Bilder mit Einzelpersonen oder Paaren gilt, ist jene in professionelle Porträts und private Amateuraufnahmen. Von Fotografen erstellte und meist in einem Studio entstandene Familienporträts haben eine höhere Qualität und zeigen, wie die „Sonntagskleidung“ der Menschen damals aussah, die Mimik eingeschlossen. Ein Termin beim Fotografen kam in Sachen Ernsthaftigkeit durchaus einem Kirchenbesuch nahe. Amateuraufnahmen von Familien, die aus der Situation heraus entstanden sind, wirken dagegen weitaus natürlicher und geben Einblicke ins Alltagsleben.
Lieber zu viel als zu wenig
Dieses Bild, dessen Entstehungszeitraum ich leider nicht kenne, ist ganz offensichtlich keine professionelle Aufnahme einer erweiterten Familie. „Erweitert“ ist dabei ein fantastisches Stichwort. Zum einen haben wir es nicht nur mit Mutter, Vater und Kindern zu tun, sondern dazu mit Großeltern und vielleicht noch anderen Familienmitgliedern. Zweitens durfte der Familienhund dabei sein, dessen Fotogenität außer Zweifel steht, und drittens hat das Bild deutlich mehr Weite als nötig gewesen wäre. Die Familie ist hier sehr rechtslastig, was wiederum als eine Anspielung auf die mögliche Entstehungszeit des Fotos taugt. Das Bild hat eindeutig ein paar Ecken, Kanten und abgeschnittene Fensterläden zu viel. Vermutlich hat der Mann oder die Frau an der Kamera einfach noch zehn weitere Familienmitglieder erwartet, die nicht gekommen sind.
So sah ein professionelles Familienporträt im Deutschland des Jahres 1929 aus. Die Höhe des Spaßfaktors lässt sich an den Gesichtsausdrücken ablesen. Die Mimik des älteren Mädchens liegt irgendwo zwischen fünf Stunden mit Mama Unterwäsche kaufen und ich muss mir mein Zimmer mit meiner kleinen Schwester teilen, die noch nicht stubenrein ist. Derweil schaut der Vater drein, wie Mann damals eben auf Familienfotos guckte, die teures Geld kosteten und per Post an die ganze Verwandtschaft geschickt werden mussten.
Na, wo ist das Vögelchen? Moment, da sind ja zwei! Bello, fass! Ich interpretiere dieses Bild einer sechsköpfigen Familie plus Fellfreund folgendermaßen: Eine Person will die Familie von vorne fotografieren, während eine andere Person, deren leicht unheimlichen Schatten wir im Bild sehen können, von der Seite fotografiert, wie die Familie von vorne fotografiert wird. Das wiederum scheint einige der Kinder zu verwirren, die ihre Aufmerksamkeit auf die Nebenkamera richten, statt auf die Hauptkamera. Könnte es so gewesen sein? Ich denke schon, weiß es aber nicht. Was ich neben dem Entstehungsjahr 1920 mit Sicherheit sagen kann, ist, dass es ein strahlender Tag war und niemand an den Sonnenschirm gedacht hat.
Falls das Regietalent eines Horrorfilms noch eines dieser schaurigen alten Familienporträts braucht, die von den Hauptfiguren auf einem Dachboden gefunden werden oder in einer geerbten Villa, in der die tote Großmutter spuckt, auf dem Kaminsims stehen, nehme ich gerne Anfragen entgegen.
Bestimmt waren die Menschen auf dem Foto sehr nette, aufgeschlossene Leute, doch selbst wenn nicht, wirkt diese Aufnahme ein bisschen sehr düster und deprimierend. Für professionelle Fotos jener Zeit ist das aber keineswegs ungewöhnlich. Familienporträts sollten anständig sein, würdevoll und korrekt. Sie waren in vielen Fällen mehr eine Imitation des Familienlebens als eine authentische Abbildung dessen.