Wenn es zu jener Zeit, als die meisten Menschen nur monatlich und nicht minütlich neue Fotos schossen, einen angemessenen Anlass gab, mal wieder die Kamera herauszuholen, dann war das Weihnachten. In beinahe jedem alten Fotoalbum findet sich mindestens eine Weihnachtsaufnahme. Diese zeigen natürlich fast immer einen Weihnachtsbaum (und ja, früher war tatsächlich mehr Lametta), erwachsene Menschen mit Kindern und unheimliche, kleine Porzellangesichter.
Ich liebe es, wie alte Weihnachtsfotos in mir eine Mischung aus Nostalgie und blankem Horror wecken. Ständig diese Puppen, Figuren, Kuscheltiere und anderen Imitationen des Lebens! Nicht, dass Kinder heute keine Puppen oder Teddys mehr zu Weihnachten geschenkt bekommen, aber die Spielzeugvielfalt ist heute wesentlich höher und Puppen sahen früher einfach viel gruseliger aus. Mindestens die Hälfte von ihnen, wenn nicht mehr, dürfte ein mörderisches Eigenleben geführt haben.
Es weihnachtet schwer
Ich habe nicht zu viel versprochen. Hier haben wir ein ganz wunderbar klassisches Weihnachtsfoto, das teil harmonisch und teils verstörend wirkt. Mich drängen sich gleich mehrere Fragen auf: Warum tragen zwei der Jungen diese damals so schrecklich beliebten Matrosenanzüge und die anderen beiden nicht? Was ist das für ein Kuscheltier ganz rechts im Bild? Ein Katzenbär oder doch eher eine Bärenkatze? Und warum ist der kleine Matrose mit der Schmalzlocke so verzückt von der Puppe seiner … Schwester? Cousine? Mein natürliches Misstrauen gegen alte Puppen lässt mich vermuten, dass sie die halbe Familie verhext hat. Derweil scheinen Papa und Mama links oben im Bild bereits ihre eigene private Bescherung zu planen.
Auf diesem weihnachtlichen Gruppenfoto sehen wir keine Puppe. Sie stand hinter der Kamera und hat das Foto geschossen. Zumindest würde das den Blick der Frau vorne links erklären. Der unübersehbare schwarze Fleck war ursprünglich nicht auf dem Foto, das ist ein Riss. Nicht auf dem Foto sein wollte scheinbar auch der Mann mit Hut ganz links, der den Eindruck erweckt, als wäre er gerade dabei, diese Weihnachtsfeier zu verlassen. In welchem Verhältnis die Menschen auf dem Bild zueinander standen, kann man kaum feststellen. Warum der Junge seinen Gürtel über dem Pullover trägt, muss ebenfalls unbeantwortet bleiben. Schön, dass es noch Weihnachtsmysterien gibt.
Da ist sie wieder, die Puppe. Obwohl sie sich eigentlich ziemlich zentral im Bild befindet, fällt der Blick des Betrachters diesmal eher auf andere interessante Details. Da wäre zum einen der bemerkenswert untannenbäumige Tannenbaum, der mal gar nichts auf den Hüften hat. Den Eindruck, dass sie sich keinen saftigeren Baum leisten konnte, macht die Familie eigentlich nicht, aber wer will das nach knapp 90 Jahren noch beurteilen? Eine zu große Tanne hätte sowieso nur das sensationelle Wandgemälde verdeckt, das entweder eine religiöse Szene oder ein Saufgelage zeigt, man kann das nicht immer so wirklich auseinanderhalten.
Der Großvater mit der Pfeife und den Hausschuhen macht einen sehr sympathischen Eindruck. Ältere Männer mit Pfeife erinnern mich immer an meinen Uropa. Gott habe ihn selig.
Mein erster Eindruck war, dass sich das kleine Jesuskind vom Dach aus in die Krippe abseilt, aber das soll wohl eher ein Engel sein, der über der Krippenszene schwebt. Bei der Weihnachtsdeko wurde auf diesem Foto aus dem Jahr 1925 keine Zurückhaltung geübt. Die figürliche Darstellung der Weihnachtsgeschichte und der kräftig beleuchtete sowie Lametta-behängte Tannenbaum ergeben eine angemessene Kulisse. Nur das mit dem Blick in die Kamera muss die Familie noch üben. Verbuchen wir es unter Testaufnahme.