Die Antike fasziniert. Das alte Griechenland der Philosophen, die uns die Demokratie lehrten, und das alte Rom der Kaiser, Gladiatoren und Sklaven, die uns Straßenbau und lateinische Kraftausdrücke brachten, inspirieren Kreative bis heute zu Filmen, Fersehserien und Romanen. Vieles von dem, was wir über die Antike wissen, verdanken wir den erhaltenen Werken aus jener Zeit. Aber Obacht, ein bisschen „Lügenpresse“ kann sogar in diesen alten Schriftrollen stecken.
Wer sich dazu entschließt, die so genannte Alte Geschichte zu studieren, darf sich zunächst intensiv mit dem Thema Quellengattungen auseinandersetzen. Da haben wir die materiellen Quellen wie Münzen, Waffen, Helme und Vasen, die uns Einblicke in das antike Alltagsleben geben und dabei helfen, Ereignisse zu datieren und die Existenz von Personen zu verifizieren. Diese materiellen Quellen sind durch Glück und Zufall erhalten geblieben und konnten mit ebenso viel Glück und Zufall gefunden werden, im Gegensatz zu den abertausenden Münzen, Helmen, Waffen und Vasen, die den Aufstieg und Fall von Weltreichen nicht überdauert haben. Das Gegenstück zu den materiellen bilden die schriftlichen Quellen. Darunter fallen die antiken Geschichtswerke, von denen einige bis ins 21. Jahrhundert weitergegeben werden konnten, viele aber auch zerstört wurden, zerfallen sind, noch nicht gefunden wurden und vielleicht nie gefunden werden. Historiker sprechen daher gerne vom Überlieferungszufall.
Die Qual mit den Quellen
Trotz dieses Überlieferungszufalls werden Quellen zusätzlich in die Kategorien der bewussten Quellen, genannt Tradition, und der zufälligen Quellen, genannt Überreste, eingeteilt. Niemand hat behauptet, dass da hier einfach wird! Zur Tradition gehören Quellen, die von ihren Urhebern bewusst für die Nachwelt erschaffen wurden und erhalten bleiben sollten. Die Werke von Geschichtsschreibern fallen eindeutig darunter. Überreste sind hingegen Spuren der Vergangenheit, die von ihren Schöpfern nur für die Gegenwart gedacht waren und ursprünglich nie den Zweck hatten, spätere Generationen zu erreichen. Stellt euch vor, ihr habt euren Einkauf im Lidl erledigt und schmeißt euren Einkaufszettel weg. Durch eine Aneinanderreihung von Zufällen überdauert der Zettel mehrere Jahrhunderte und wird im Jahr 4539 von Forschern entdeckt. Diese versuchen nun, anhand von „1 P. Spagh, 1x T-Soße im Glas, 2x Van.Eis, Spül-Tabs“ Rückschlüsse auf Leben, Lieben und Leiden im 21. Jahrhundert zu schließen. Der Einkaufszettel ist damit ein Überrest.
Fünf Fragen
Zurück zur antiken Geschichtsschreibung. Uns sind schriftliche Zeugnisse von gelehrten Männern wie Sueton (ca. 70 n. Chr. – 122 n. Chr.), Tacitus (ca. 58 n. Chr – 120 n. Chr.), Herodot (480 v. Chr. – 424 v. Chr.) und Thukydides ( ca. 454 v. Chr. – ca. 399 v. Chr) erhalten geblieben, die bestrebt waren, die Geschichte der antiken Welt festzuhalten. Niemand will diese Persönlichkeiten, deren Texte bis heute von armen Lateinlernenden übersetzt werden müssen, obwohl sie schon tausendmal in alle Weltsprachen übersetzt wurden, der bewussten Lüge bezichtigen, aber auch diese Männer der Antike waren nur Menschen. Als solche besaßen sie ihre eigenen Weltanschauungen, verfolgten bestimmte Ziele und waren Teil einer politischen und kulturellen Umgebung. Das hat ihre Art, die Geschichte festzuhalten, naturgemäß beeinflusst, wenngleich sie dies selbst wohl nicht so gesehen haben. Daher sollten die Menschen von heute bei der Interpretation dieser alten Quellen immer fünf entscheidende Fragen im Hinterkopf behalten – das hilft dabei, im Geschichtsstudium nicht auf die Nase zu fallen. Außerdem macht es die Arbeit mit diesen alten Texten sehr viel interessanter.
Wann lebte der Autor?
Die Antike war ein sehr großer Zeitraum. Bis heute streiten Historiker darüber, wann sie genau begann und wann sie endete. Die antiken Geschichtsschreiber haben keineswegs immer nur den Teil der Antike dokumentiert, den sie selbst erlebt haben. Das ist zum Verständnis eines Textes grundlegend: War der Autor wirklich Zeitzeuge oder wurde er erst einige Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später geboren? Nur weil jemand schon lange tot ist, heißt das nicht, dass er früh genug geboren wurde. Über diesen weisen Satz dürft ihr jetzt gerne noch ein bisschen nachdenken.
Ist etwas über die Weltanschauung des Autors bekannt?
Objektivität ist ein ehrenwertes Ziel, das sich aber schon in der Antike schwer erreichen ließ. Nehmen wir als Beispiel den römischen Geschichtsschreiber Sallust ( 86 v. Chr. – ca. 34 v. Chr.). Er hatte sich nach dem Tod Julius Cäsars, unter dessen Herrschaft er sich finanziell sehr bereichern konnte, aus der Politik zurückgezogen. Sein gesamtes Schreiben konzentrierte sich vor allem auf innenpolitische Aspekte und war von Pessimismus geprägt. Er äußerte sich oft abwertend über die politischen Machenschaften, in denen er selbst verwickelt war. Der römische Historiker Ammianus (ca. 330 n. Chr. – 395 n. Chr.), der eigentlich Grieche war, betrachtete die römische Oberschicht sehr kritisch und besaß viele Vorurteile gegenüber fremden Völkern. Prokop (500 n. Chr. – 560 n. Chr.) lässt in seinem Werk eine tiefe Abneigung gegen Kaiser Justinian und dessen Gattin erkennen. Cassius Dio verherrlichte die Vergangenheit und lehnte die Zeit, in der er selbst lebte (2. Jahrhundert nach Christus), als dekadent ab.
Woher stammen die Informationen des Autors?
Eine knifflige, aber wichtige Frage. War der Autor Augenzeuge der Ereignisse, die er schildert? Hat er von ihnen gehört? Hatte er Zugang zu Quellen, die für uns heute längst verloren sind? Benennt er diese eindeutig? Hier offenbaren viele antike Quellen Lücken und Unklarheiten. Sueton, dessen berühmten Kaiserbiographien wir unter anderem entnehmen können, dass Kaiser Caligula nicht mehr alle Lorbeeren im Kranz hatte, war im ersten Jahrhundert n. Chr. Sekretär in den römischen Staatsarchiven und hatte damit Zugang zu offiziellen Quellen. Andererseits ließ er manche Anekdoten und Gerüchte in seine Kaiserbiographien einfließen. Herodot behauptete, viel gereist zu sein, allerdings enthalten seine überlieferten Beschreibungen einige Unstimmigkeiten. Die Forschung streitet darüber, ob Herodot entweder gar nicht gereist ist oder aber auf seinen Reisen des Öfteren mal von den Einheimischen auf den Arm genommen wurde und deren unsinnige Aussagen übernommen hat. Touristennapp im 4. Jahrhundert vor Christus? Einfach mal den reichen, neugierigen Griechen verarschen? Für mich klingt das plausibel.
Steht das Werk in einer längeren Tradition?
So wie heute ein begabter Horrorautor danach strebt, als neuer Stephen King zu gelten, wollte ein Prokop schon der neue Herodot werden. Viele antike Quellen besitzen, egal wie viele Generationen zwischen ihnen liegen, eine gewisse Verwandtschaft, da ein Autor dem anderen nachzueifern versuchte. Zum umgekehrten Fall der gegenseitigen Verunglimpfung kam es ebenfalls. So ließ Thukydides in seinem Werk eine Spitze gegen Herodot und dessen Methodik los. Offensichtlich ist das Dissen keine Erfindung unserer Zeit.
An wen richtet sich der Text?
Auch das ist nicht unerheblich. Die antiken Autoren hatten mit ihren Werken mitunter eine spezifische Klientel im Auge. Das wohl prominenteste Beispiel ist Tacitus, der Senator war und für Senatoren schrieb. Er gilt als der wichtigste Vertreter der „senatorischen Geschichtsschreibung“.
Disce aut discede!
Schufte oder verdufte! Wer gerne Alte Geschichte studieren möchte, dem kann ich nur sagen: Es lohnt sich. Es kostet euch einige schlaflose Nächte und Staub in den Lungen, aber ihr lernt viele faszinierende Dinge, die ihr nie wieder braucht. Und vielleicht schreibt ihr dann in einem Blog darüber.
Anmerkung
Dieser Beitrag wurde bearbeitet. Er erschien ursprünglich am 02. März 2016.