Der Eurovision Song Contest will nicht politisch sein, er versucht absolut alles, um dem Stigma, von der aktuellen Politik in Europa beeinflusst zu werden, zu entkommen und integriert dazu sogar schon nicht-europäische Teilnehmer, doch am Ende war der ESC 2016 so hochpolitisch, dass es schon an Absurdität grenzte.
Eigentlich ist der Eurovision Song Contest nicht meine Welt. Ich habe noch nie eine Ausgabe dieser Veranstaltung komplett gesehen, aber ich finde die Punktevergabe durchaus interessant und hatte im Gefühl, dass es dieses Jahr bemerkenswert werden könnte. So war es dann auch. Die Ukraine gewinnt in einem fotoesken Finish gegen Russland mit einem Song namens „1944“, der ein dunkles Kapitel der aktuell wieder angespannten russisch-ukrainischen Beziehungen thematisiert, nachdem die Juryvotes eigentlich ganz klar in Richtung des nicht-europäischen Teilnehmers Australien gingen. An diesem Abend, an dem ein Song namens „1944“ von den Zuschauern die meisten Stimmen bekam, landete Deutschland indessen auf dem letzten Platz, nachdem die deutsche Jury zuvor 12 Punkte an Israel und die deutschen Zuschauer 12 Punkte nach Russland vergeben hatten. Einiges davon mag Zufall sein, aber ganz ehrlich: Geht es politisch-historisch eigentlich noch kurioser?
Ukraine 1944
Die Ukraine feiert und darf nächstes Jahr dieses Spektakel austragen, das keiner mehr sehen kann, aber alle gucken. Der Eurovision Song Contest 2017 wird in Kiew stattfinden, nicht in Moskau. Die beachtliche Menge der Zuschauer, die für den russischen Beitrag gestimmt hat, wurde noch übertroffen von der Menge der Leute, für die „1944“ der beste Song war. Ein Song von einer gebürtigen Krimtatarin, der mit Russland abrechnet. Es schien fast, als hätten die Jurys der einzelnen europäischen Länder genau dies zu verhindern versucht und daher die meisten Punkte an Australien verteilt, an ein Land, das angenehm wenig mit der europäischen Politik und Geschichte zu tun hat, weil es gar nicht in Europa liegt. Die Zuschauer dagegen haben Australien zwar nicht mit Missachtung gestraft, aber letztlich aus der Gleichung rausgenommen. Der Eurovision Song Contest ist weiterhin europäisch, im Guten wie im Schlechten.
Im Song „1944“ wird Russland mit keinem Wort erwähnt, aber der Songtitel in Kombination mit dem Text lässt relativ wenig Raum für Interpretation offen. Das Lied thematisiert die brutale Deportation der Krimtataren durch die Russen im Jahr 1944. Es stellt anklagende Fragen wie Where is your heart? Es macht klare Vorwürfe: You think you are gods! Gerichtet an die russischen Angreifer von damals – und von heute. Hier der ganze Text. Das Lied überhaupt zuzulassen, war schon ein Wagnis. Dass es nun auch noch gewonnen hat, wird die Diskussion um die politische Seite des Eurovision Song Contests weiter anheizen. Die Maßnahme, die Juryvotes und die Zuschauerstimmen noch deutlicher zu trennen, war dabei kontraproduktiv. Sie sollte mehr Neutralität demonstrieren, aber das Ergebnis daraus gestaltete sich, wie gesagt, kurios. Die so genannten Experten, deren Unabhängigkeit auch kein Mensch prüfen kann, stimmten überwiegend aus Europa raus und die Zuschauer überwiegend in einen europäischen Konflikt hinein.
Erster von unten
Deutschland erhielt zum zweiten Mal in Folge die wenigsten Punkte. Weder die Jurys noch die Zuschauer konnten sich besonders für den deutschen Beitrag erwärmen. War er wirklich so schlecht? Wie viel Politik steckt in diesem erneut schlechten Abschneiden? Dass ein Song über die Schrecken des Jahres 1944 gewinnt und Deutschland gleichzeitig Letzter wird, hat etwas symbolisches an sich, das sich im Jahr 2016 allerdings sehr unangenehm anfühlt. Natürlich wird damit nicht direkt ausgesagt, dass Deutschland wieder da ist, wo es 1944 im Bewusstsein Europas war, das wäre fatal, aber zu behaupten, die Platzierung hätte rein gar nichts mit der aktuellen Politik Deutschlands zu tun, erscheint auch sehr blauäugig. In Europa reißt man sich nicht gerade darum, dem „Powerhouse“, wie Deutschland in der englischsprachigen Presse ständig genannt wird, auch noch bei einem Musikwettbewerb Punkte zu geben. Nur ist es dann eben kein reiner Musikwettbewerb mehr. Wie würden die Platzierungen wohl ausfallen, wenn alle Kandidaten anonym antreten würden, ohne dass man weiß, aus welchem Land sie kommen? Und die Songs wirklich, wie eigentlich vorgeschrieben, unpolitisch sind? Leider ist das heutzutage kaum mehr möglich. Wie will man geheim halten, wer aus welchem Land kommt?
Meine persönliche Meinung nach zwei letzten Plätzen in Folge ist, dass Deutschland diese Wahl „annehmen“ und sich mindestens für ein Jahr aus dem Wettbewerb zurückziehen sollte. Klar, man könnte uns dann vorwerfen, beleidigte Weißwürste zu sein, andererseits erscheint es auch zunehmend fragwürdiger, deutsche Fernsehgelder in eine Veranstaltung zu buttern, bei der Deutschland am Ende immer als Depp dasteht. Entweder, unsere Musik ist momentan wirklich so schlecht, dann sollten wir es wie ein Absteiger im Fußball handhaben und uns aus der Liga verabschieden, in der wir aktuell nicht mithalten können, oder wir werden nach unserer Politik und Wirtschaft bewertet, dann macht die Teilnahme auch keinen Sinn, sondern ist nur ein würdeloser Spießrutenlauf, für den wir auch noch zahlen.
Europa ist dieser Tage nicht unpolitisch. So unpolitisch wie jetzt war Europa lange nicht mehr. Der Eurovision Song Contest hat meines Erachtens nach wieder einmal gezeigt, dass er nicht die Plattform ist, um darüber hinwegzusehen. Eher im Gegenteil.