Das Jahr der Gemeinfreiheit

Das Thema Gemeinfreiheit flammt zwar im öffentlichen Diskurs immer mal wieder auf, zumeist im Zusammenhang mit der leidigen, bisweilen unfreiwillig komischen Problematik der Bildrechte, bei der sogar über Affen-Selfies gestritten wird, aber in der Regel interessieren sich weder die Medien noch der Ottonormalkonsument dafür, welche Werke wann gemeinfrei werden. 2016 war das zum ersten Mal anders.

Gemeinfrei

Die Vergänglichkeit des Urheberrechts

Über den Umstand, dass Adolf Hitlers „Mein Kampf“ seit 2016 gemeinfrei ist, wurde und wird viel berichtet. Das zeitliche Zusammentreffen mit der Flüchtlingskrise sorgte dabei für zusätzlichen Zündstoff und beunruhigte die Berufsbeunruhigten. Politiker, Historiker, Juristen, Literaturwissenschaftler und Soziologen diskutierten eifrig darüber, ob und in welcher Form das mehr als nur umstrittene Machtwerk zukünftig in den Handel gelangen sollte. Ich glaube, die einzigen, die nicht dazu befragt wurden, waren die Geologen. Mittlerweile ist „Mein Kampf“ wieder in den deutschen Bestsellerlisten angelangt – als kommentierte Neuauflage.

Was bedeutet eigentlich gemeinfrei?

Von Gemeinfreiheit sprechen wir im Zusammenhang mit einem künstlerischen Werk, das über keinen Urheberrechtsschutz verfügt, da der Urheber von sich aus darauf verzichtet hat oder das Werk keinem Urheber zugeordnet werden kann. Unter gewissen Umständen kann ein Urheberrecht außerdem aberkannt werden. Besitzt ein Werk jedoch einen legitimen Urheberrechtsschutz, so erlischt dieser in Deutschland 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers. Damit wird auch dieses Werk dann gemeinfrei und kann ohne Zustimmung der Rechtsnachfolger, etwa der Erben des Urhebers, frei verwendet werden. Das gilt ebenfalls für ausländische Autoren, die ins Deutsche übersetzt werden.

Was bedeutet Gemeinfreiheit im Zusammenhang mit „Mein Kampf“?

Kartenspieler

Dieses Bild aus meinem Besitz ist definitiv gemeinfrei. Es wurde vor 1900 geschossen.

Der offizielle Wohnsitz Adolf Hitlers befand sich in München. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs fiel sein Nachlass, einschließlich seiner Urheberrechte, an den Freistaat Bayern. Das zuständige Bayerische Finanzministerium untersagte in Deutschland jeglichen Nachdruck von „Mein Kampf“. In Großbritannien und den USA war die Rechtslage eine andere, da 1930 die englischsprachigen Rechte an „Mein Kampf“ verkauft worden waren. Mit dem 31. Dezember 2015 sind volle 70 Jahre seit Hitlers Tod vergangen. „Mein Kampf“ wurde damit gemeinfrei. Damit begann der nach wie vor schwellende Streit, ob das Buch nicht den Tatbestand der Verbreitung verfassungsfeindlicher Propaganda sowie der Volksverhetzung erfüllt und strafbar ist. Damit wäre das Erlischen des Urheberrechts irrelevant.

Der gegenwärtige, einigermaßen akzeptierte Kompromiss ist, dass „Mein Kampf“ zum Zwecke der Aufklärung bzw. durch Wissenschaftler, Künstler und Journalisten verbreitet werden darf. Rechtsgerichtet sollten diese Wissenschaftler, Künstler oder Journalisten aber möglichst nicht sein – und damit wären wir schon wieder an einem Knackpunkt angelangt. Der Interpretationsspielraum ist sehr hoch. Aber: Das Buch weiterhin hinter einer Mauer aus Bürokratie und „wir meinen es nur gut“-Plattitüden zu verstecken, fördert nur dessen Mythos. Die Deutschen von heute sollten sich mit dem Werk, von dem sie im Geschichtsunterricht und in Fernsehdokumentationen ständig hören, auseinandersetzen dürfen. Gerne unterstützt durch historische Anmerkungen, wie das aktuell praktiziert wird. Die traurige Wahrheit ist schließlich, dass diejenigen, die offen für die Idiologie von damals sind, sich das Buch längst auf dem Schwarzmarkt oder im Ausland besorgt haben. Dann kann die Politik besser Nägel mit Köpfen machen und zeigen, dass sie die Menschen grundsätzlich für mündige Bürger hält, die sich nicht von einem toten Rattenfänger einfangen lassen.

Seit 2016 gemeinfrei

Seit dem Jahr 2016 sind noch weit mehr Schriften gemeinfrei. Dazu zählt auch der vielleicht bekannteste Gegenentwurf zu Hitlers Herzschrift: Das Tagebuch der Anne Frank. Das jüdische Mädchen ist zu einer Symbolfigur für die Unmenschlichkeit der Nazi-Diktatur geworden. Wer aus historischem Interesse „Mein Kampf“ liest, sollte anschließend dieses Werk lesen, um die Folgen von Hitlers Wahn zu verinnerlichen. Es kann kaum verwundern, dass einige der Autoren, die 1945 gestorben sind und deren Werke 2016 ihren Urheberrechtsschutz in Deutschland verloren haben, mit dem Nationalsozialismus oder dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung standen.

Grundsätzlich ist das Interesse an dem Schwung wissenschaftlicher und belletristischer Schriften, die jedes Jahr gemeinfrei werden, nun vielleicht größer geworden. Hier noch einige Beispiele aus dem Jahr 2016:

Rudolf Borchardt

Foto von Rudolf Borchardt

Gemeinfreies Foto von Rudolf Borchardt.

Der gebürtige Königsberger, der 1945 in Tirol an Herzversagen starb, hat Gedichte, Reden, Essays und Romane veröffentlicht. Zu seinen bekanntesten Werken zählen die Novelle „Der unwürdige Liebhaber“, die 1980 verfilmt wurde, und das Essay „Villa“, das sich ausgehend von einer italienischen Villa mit den Unterschieden zwischen Deutschland und Italien befasst. Er war mit seiner Familie auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus.

 

 

Hans Dominik

Hans Dominik war zu Lebzeiten ein erfolgreicher Sci-Fi-Autor, dessen Bücher in hohen Auflagen gedruckt wurden und noch immer neu aufgelegt werden. Allerdings ist seine Literatur nicht unbelastet, da sie teilweise rassistisches Gedankengut beinhaltet, das die Überlegenheit der Europäer gegenüber anderen Völkern postuliert. Seine Werke erscheinen daher seit Ende des Zweiten Weltkriegs gekürzt. Allerdings eckte er mit seinen Geschichten zu Lebzeiten auch bei der Nazi-Führung an.

Bruno Frank

Bruno Frank verließ Deutschland 1933, um dem drohenden Terrorregime zu entgehen. Als Exilautor verfasste er unter anderem von England und den USA aus Schriften gegen die Nazi-Herrschaft und setzte sich politisch ein. Sein bedeutendster Roman war „Cervantes“, der die Vorgeschichte des Meisterwerks „Don Quijote“ beschreibt. Bruno Frank starb in Beverly Hills, ohne jemals wieder deutschen Boden betreten zu haben.

Margaret Deland

Die US-amerikanische Autorin von Romanen, Kurzgeschichten und Gedichten feierte ihre größten literarischen Erfolge im 19. Jahrhundert. Ihr erster Gedichtband „The Old Garden and Other Verses bei Houghton Mifflin“ erschien 1886, ihr erster Roman „John Ward, Preacher“ zwei Jahre später. Sie starb 1945 im hohen Alter in Boston.

Ferdynand Antoni Ossendowski

Der Schriftsteller und Forschungsreisende aus Polen führte ein bewegtes Leben, das ihn unter anderem nach Sibirien, in die Mandschurei, in die Mongolei, nach Japan und in die USA führte. Über seine Erlebnisse schrieb er das erfolgreiche Buch „Tiere, Menschen und Götter„. Er erhielt auch für ein sehr kritisches Buch über Lenin viel Beachtung. Im Polen der Nachkriegszeit waren seine Werke wegen der antirussischen Haltung geächtet. Das änderte sich nach dem Zerfall der Sowjetunion.

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