Eigentlich hatte ich nie vor, mich mit alten Postkarten zu beschäftigen. Die waren mir immer zu kitschig, werden auf Flohmärkten teilweise für lächerlich hohe Summen gehandelt und die Texte auf den Rückseiten zu entziffern macht so viel Spaß wie die Entschlüsselung eines russischen Geheimcodes. Doch wer alte Fotos sammelt, kommt auf Dauer um das Thema alte Postkarten gar nicht herum.
Früher schickten die Leute ihren Verwandten und Bekannten Postkarten zu Weihnachten, zu Ostern, zum Geburtstag, zum Jahreswechsel, eigentlich zu allen Feiertagen. Das war eine nette Aufmerksamkeit, die viel weniger kostete als Briefe oder Telefonate, geschweige denn als selbst zu den Verwandten zu reisen. Heute verschicken die Menschen eine WhatsApp, eine SMS oder eine Email, sofern sie sich nicht über Twitter oder Facebook ohnehin schon minütlich miteinander austauschen. Postkarten werden immer noch genutzt, aber eher als individuelle Aufmerksamkeit, die etwas Besonderes sein soll. Sie ist kein Massenkommunikationsmittel mehr. Die Traumwerte des Jahres 1900, als in Deutschland mehr als 950 Millionen Postkarten verschickt wurden, werden wir wohl nie wieder erreichen. Es sei denn, jemand schaltet das Internet ab.
Alte Postkarten im vergessenen Fotoalbum
Die Philokartie, wie das Sammeln und Erforschen alter Postkarten in der Fachsprache heißt, gilt offiziell nicht als Teilbereich des Sammelns und Erforschens alter Fotos und Kameras, doch die Überschneidungspunkte sind da. In vielen alten Fotoalben aus dem frühen bis mittigen 20. Jahrhundert finden sich auch Mengen sorgfältig eingeklebter Postkarten. Oftmals handelt es sich dabei um Fotopostkarten, die kein fiktives Motiv oder eine Landschaft, sondern Verwandte oder Bekannte abbilden. Das trifft aber nicht immer zu. Alle Arten von Postkarten wurde damals in Fotoalben eingefügt. Sei es als Erinnerung an eine Reise oder einen feierlichen Anlass, als Farbtupfer in dem ansonsten schwarz-weißen Bildermeer oder weil Mensch damals ein Produkt, das immerhin ein paar Pfennige gekostet hat, nicht einfach wegschmeißen wollten. So bin ich mittlerweile im Besitz einer ganzen Reihe von Postkarten, um die es mir nie ging, die aber mit dabei waren. Eine wiederholt auftretende Gattung unter den alten Postkarten sind die gemalten Darstellungen von glücklichen, perfekten und teilweise seltsam unkindlichen Kindern. Im Folgenden drei Beispiele, alle aus dem Album einer Familie.
Blumenfreundin endlich am Ziel
Wie süss doch diese beiden blonden, zehnjährigen Kinder sind, die sich leidenschaftlich küssen. „Am Ziel“ ist hier natürlich doppeldeutig zu verstehen. Es bezieht sich einmal auf die angekommene Postkarte und andererseits auf den kleinen Babyspeck-Romeo, der seine pummelige Julia erobert hat. Das wurde aber auch Zeit, nachdem er sie seit seinem 8. Geburtstag heftig umgarnt hatte! Ob irgendwer, vielleicht ein freundlicher Spiegelverkäufer, den beiden noch rechtzeitig enthüllen konnte, dass sie zweieiige Zwillinge sind?
Verschickt wurde diese eigentlich harmlose und unschuldige, heute dennoch leicht bizarr anmutende Postkarte am 17. Juli 1930 von Giessen nach Hatzenport an die Mosel. Habe ich schon erwähnt, wie frustrierend es ist, 80 Jahre alte Handschriften zu entziffern? Ich weiß nicht, ob Postkarten mit einem solchen Motiv heute noch besonders gut ankommen. Zumindest nicht als Einladung zum 10. Geburtstag.
Kleine Mädchen mit Blumen waren schon immer ein beliebtes Motiv, das Liebreiz und pure Unschuld ausdrückt. Unschuld, die sagt: „Ich küsse keine Jungs an meinem Fenster!“ Dieses Motiv ist so kitschig und süsslich, wie eine Postkarte nur sein kann. Sie wurde am 22. November 1926 verschickt, wieder nach Hatzenport, diesmal aus Lindenfels in Hessen. Nach mühevoller Dechauffrierung kann ich enthüllen, dass der Text auf der Rückseite mit den Worten: „Meine liebe, kleine Agathe“ beginnt. Ich finde, das Motiv passt perfekt zum Text. Die Absenderin war offenbar Agathes Tante. Wie lange ist das Postgeheimnis eigentlich gültig?
Einer der ärgsten Konkurrenten des zehnjährigen Romeos war der gleichaltrige Rosenkavalier. Auch hier sehen wir ein Kind auf eine Weise dargestellt, die nach dem Prinzip „Kinder sind die süßeren Erwachsenen“ funktioniert. Interessant ist dabei nicht nur das Bildmotiv, sondern auch der Text darunter, der leider nicht mehr so gut zu erkennen ist. Er lautet: Herzliche Glückwünsche zum Neuen Jahre. Das klingt doch etwas anders als unser heutiges Frohes Neues! Die Postkarte ging am 31. Dezember 1925 auf die Reise an die Mosel nach – ihr ahnt es sicher bereits – Hatzenport. So förmlich wie damals werden Neujahrswünsche heute nicht mehr formuliert. Es würde sowieso zu lange dauern, das nach all dem Sekt noch ins Smartphone zu tippen.
Und wo war jetzt nochmal Hatzenport?
Nachdem er nun schon mehrfach genannt wurde als der Ort, an den diese und noch eine ganze Reihe anderer, interessanter Postkarten angekommen sind, ein paar Worte zu Hatzenport. Die Gemeinde liegt in Rheinland-Pfalz an der Mosel, um es präziser auszudrücken an der Untermosel, und scheint ganz hübsch zu sein. Viele Menschen leben nicht dort, nur etwas mehr als 600. Wie viele Postkarten heute dort im Jahr so ankommen, ist mir nicht bekannt.
Also, ich benutze heute Postkarten auch noch sehr kreativ und zwar mittels Internet. Es gibt einen Anbieter, den Du über ein Webinterface oder App Bilder und Text innerhalb eines Postkartenrahmen schickst und die printen Dir das als Karte auf 300g Karton aus (4/0 farbig) und veschicken es mit der Post. Und es wird eine Briefmarke draufgeklebt. Schau mal bei Pokamax.
Gruß gunwalt