Das deutsche Alphabet besteht aus 26 Grundbuchstaben plus Umlaute und Eszett. Um bequem einen gut verständlichen Text zu schreiben, ist es empfehlenswert, alle Buchstaben zur freien Verfügung zu haben. Es sei denn, man will ein Leipogramm verfassen.
Ein Leipogramm oder auch Lipogramm ist ein Text, in dem auf die Verwendung eines Buchstabens oder mehrerer Buchstaben verzichtet wird. Dies geschieht mitunter unbewusst, damit der Text einen bestimmten Klang bekommt, oft aber steckt dahinter ein literarischer Kniff oder ein Sprachspiel. Je länger der Text sein soll und je größer die Bedeutung des „verbotenen Buchstabens“ in einer Sprache ist, desto höher gestaltet sich logischerweise der Schwierigkeitsgrad. Einen sinnvollen, grammatikalisch korrekten 1000-Zeichen-Text ohne den Buchstaben E möchte ich im Deutschen nicht schreiben müssen. Eine identische Aufgabenstellung mit dem Buchstaben X als verbotene Frucht traue ich mir dagegen sofort zu.
Kein R im Barock
Es sollte keine Überraschung sein, dass das Leipogramm auf die Antike zurückgeht. Geht nicht alles, was künstlerisch und philosophisch anspruchsvoll ist, aber niemand wirklich braucht, auf die Antike zurück? Das älteste bekannte Leipogramm stammt aus dem 6. Jahrhundert vor Christus und wurde von dem griechischen Lyriker Lasos aus Hermione verfasst. Er verzichtete dabei auf den Buchstaben Sigma, also quasi auf das S. Ein Renner war die Leipogrammatik, wie die Kunst, Leipogramme zu dichten, fachlich korrekt heißt, zunächst nicht. Aus der Zeit zwischen dem 6. Jahrhundert vor Christus und dem Mittelalter sind nur wenige Leipogramme überliefert.
Dann kam die Barockzeit, jene Phase der Menschheitsgeschichte, in der alles ein bisschen prunkvoller, prachtvoller, extravaganter und verrückter sein musste – und was ist schon verrückter, als absichtlich auf einen Buchstaben zu verzichten, auf den ein Sprecher eigentlich nicht verzichten kann? Leipogramme erlebten im Barock ihre Blütezeit. Besonders populär war es, den Buchstaben R wegzulassen. Warum gerade das R? Möglicherweise, weil dieser Buchstabe mit Wildheit (knurren) und Spott assoziiert wird. Er ist in der deutschen Sprache der fünfthäufigste Buchstabe. Nach dieser Hochphase im Barock dankte die Leipogrammatik wieder ab und führt heute ein Nischendasein. Dafür dürfte es einen einfachen Grund geben: Diese Textform ist schwierig.
Sag es mit ohne
Als ich ein Kind war, haben wir häufig ein Spiel gespielt, bei dem jemand Fragen beantworten musste, ohne die Worte Ja, Nein, Schwarz oder Weiß verwenden zu dürfen. Wenn ich mich recht erinnere, gab es das damals sogar als Quizspiel im Radio. Ich empfand dieses Spiel als schwierig, vor allem, da ich dabei extrem angespannt war. Sich selbst daran zu hindern, bestimmte Worte zu benutzen, ist regelrecht anstrengend, aber immer noch einfacher, als komplett auf einen Buchstaben zu verzichten. Verbal erscheint das kaum machbar. Man stelle sich ein Bewerbungsgespräch vor, das auf die Nutzung von 70% des Alphabets beschränkt wird. Schriftlich sieht dies etwas anders aus, aber es bleibt eine riesige Herausforderung.
Im Selbstversuch
Am größten Tag seiner Fußball-Geschichte hat Wales den Traum einer goldenen Generation zerstört. (sportal.de)
Diesen Satz nun bitte, selbstverständlich bei gleicher Bedeutung, umschreiben ohne Verwendung des Buchstabens G.
Am bedeutendsten Datum seiner Fußball-Historie hat Wales den Traum einer hochtalentierten Altersstufe zerstört.
Besser klingt die G-lose Variante nicht. Insgesamt war das aber noch recht einfach. Anderer Versuch: Ein 40-Wörter-Text über meine Frühstücksgewohnheiten ohne den Buchstaben R.
Nach dem Aufstehen esse ich stets eine Banane. Meistens esse ich die Banane schnell im Stehen, da ich ziemlich spät aufstehe und momentan auch noch ein Kaninchen in Pflege habe, das ich beköstigen muss. Im Wesentlichen bin ich jedoch einfach ziemlich faul.
Es geht also, nur liest sich so ein Text dann etwas ungelenk. Die Leipogrammatik und mich verbindet keine Liebe fürs Leben. Ich bevorzuge es, aus dem Vollen von 26 Grundbuchstaben plus Umlaute und Eszett schöpfen zu können.