„Jeder Narr kann die Wahrheit sagen, aber nur ein verhältnismäßig intelligenter kann gut lügen“ wusste der englische Satiriker Samuel Butler schon im 17. Jahrhundert. Es ist die volle, absolute und unwiderlegbare Wahrheit, dass es seit Menschengedenken immer Lügner und Lügen, dreisten Betrug, Falschmeldungen und als Tatsachen verkaufte Gerüchte gab. Einige der schrägsten und interessantesten Fälle von Lug & Betrug sind fast vergessen. Fast.
Diese Sonderausgabe meiner Sammlung von unnützem Wissen dreht sich nicht um die Wahrheit. Dennoch sind alle Fakten echt. Es entspricht den Tatsachen, dass es diese Fälle von Lügen, Betrügereien und Falschinformationen gab. Niemand muss diese teilweise absurden Kapitel aus Politik, Literatur und Gesellschaft kennen, um seinen Alltag zu bestreiten, Prüfungen zu bestehen oder berufliche Erfolge zu erzielen, aber interessant und lehrreich sind sie schon. Ungelogen.
Kuriose Betrugsfälle und andere Lügen
Kleopatras französischer Liebesbrief
Im Frankreich des 19. Jahrhunderts entdeckte ein Mann namens Denis Vrain-Lucas eine erstaunlich lukrative Einnahmequelle: Er fälschte handschriftliche Notizen von berühmten Persönlichkeiten und verkaufte diese an gutgläubige Buchhändler und Sammler, insbesondere an den Mathematiker Michel Chasles. Zu Vrain-Lucas‘ Werken gehörten ein angeblicher Brief des Pontius Pilatus, in dem dieser den Tod von Jesus Christus bedauert, ein Liebesbrief von Kleopatra an Marcus Antonius sowie Dokumente von Julius Cäsar, Johanna von Orleans und Alexander dem Großen – allesamt in französischer Sprache (!) verfasst. Der Schwindel ging unfassbar lange gut, bis misstrauischere Wissenschaftler als Michel Chasles auf die Dokumente aufmerksam wurden.
Was lernen wir daraus? Französische Mathematiker sind dumm. Das stimmt natürlich nicht – alle Mathematiker sind dumm. Und das schreibe ich nicht nur, weil ich in Mathe bei jeder Prüfung durchgefallen bin. Ich finde ja, die Geschichte von Denis Vrain-Lucas sollte all jenen, die damals auf die gefälschten Hitlertagebücher hereingefallen sind, Mut machen. Immerhin haben sie keine Unsummen für ein auf russisch geschriebenes Dokument des deutschen Diktators ausgegeben. Oder für einen Brief von Stalin auf Spanisch. Wie Gelehrte auf die offensichtlich nicht besonders kontextbezogenen Fälschungen des Monsieur Vrain-Lucas hereinfallen konnten, der unter anderem Kleopatra schreiben ließ, sie wolle ihren Sohn in Marseille zur Schule schicken, ist schwer zu begreifen.
Ein Name zu viel
Karl-Theodor zu Guttenberg heißt mit vollständigem Namen Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg. Nach dessen Ernennung zum deutschen Wirtschaftsminister schmuggelte ein Unbekannter in den Wikipedia-Eintrag des Politikers noch einen weiteren Vornamen, Wilhelm, dazu. Viele große Zeitungen übernahmen diesen Fehler und blamierten sich damit gründlich.
Was lernen wir daraus? Copy & Paste von Wikipedia ist kein seriöser Journalismus. Es ist einfach, kostenlos und enorm zeitsparend, aber eben mit dem Risiko verbunden, komplett auf die Nase zu fliegen. Hinterher müssen die Schuldigen wieder alles auf einen nicht-existierenden Praktikanten schieben oder auf einen tatsächlich existierenden Praktikanten, der so einen Fehler nie begehen würde.
I, Libertine
Im April 1955 initiierte der amerikanische Radiomoderator Jean Parker Shepherd einen großen Schwindel. Er verbreitete Meldungen über einen neuen Roman namens „I, Libertine“, der von amourösen Abenteuern und höfischen Intrigen im London des 18. Jahrhunderts handeln soll und von einem gewissen Frederick R. Ewing geschrieben wurde. Dem Radiomoderator gelang es, dass so viele Vorbestellungen des nicht existierenden Buches im Handel eingingen, dass „I, Libertine“ in den USA weit oben auf den Bestsellerlisten landete. Damals zählten nicht nur reale Verkaufszahlen, sondern auch die Nachfrage eines Buches. Eben dieses System wollte Shepherd ad absurdum führen. Der Schwindel flog auf, als der Verleger Ian Ballantine versuchte, die Rechte an dem Roman zu erwerben. Schließlich beschlossen Shepherd und Ballantine, „I, Libertine“ mit Unterstützung des Autors Theodore Sturgeon tatsächlich zu schreiben. Der Roman wurde ein echter Bestseller.
Was lernen wir daraus? Es ist nicht so klug, Bücher auf die Bestsellerlisten zu setzen, die noch kein einziges Mal verkauft wurden. Ob ein Buch, das von „amourösen Abenteuern“ handelt, überhaupt auf eine Liste der bestverkauftesten Bücher gehört, sei dabei mal ausgeklammert. Die falsche Biographie wies Mr. Frederick R. Ewing übrigens als britischen Ex-Offizier und Experten für die Erotik des 18. Jahrhunderts aus. Zur Verteidigung aller damals Hereingefallenen muss man natürlich sagen, dass der Buchhandel in den 1950er Jahren noch etwas komplexer und überraschungsreicher war, denn es gab noch kein Amazon. Nicht einmal ebay. Finstere Zeiten müssen das gewesen sein.
Tschechische Fälschungen
Im 19. Jahrhundert galten in Tschechien zwei Liedsammlungen, die Königinhofer Handschrift und die Grünberger Handschrift, als mittelalterliche Überlieferungen und prägten das nationale Geschichtsbild des um Einheit ringenden Landes. Sie erwiesen sich jedoch als Fälschungen, deren Urheber wahrscheinlich der Sprachwissenschaftler Václav Hanka und der Schriftsteller Josef Linda waren.
Was lernen wir daraus? Geschichte ist nicht immer das, was sie zu sein scheint und schon gar nicht so, wie wir sie uns wünschen. Klar möchten wir alle, dass unsere Vor-Vorfahren wunderschöne Texte gedichtet haben, statt nur hart zu arbeiten und an der Pest zu sterben, aber die Vergangenheit ist nun einmal kein Wunschkonzert.
Der Fürst von Poyais
Ab 1820 gab sich der schottische Soldat Gregor MacGregor in London als Fürst eines Landes aus, das überhaupt nicht existierte. Er behauptete, sein Staat „Poyais“ an der Karibikküste Nicaraguas wäre ein blühendes Reich mit hohem Goldvorkommen und viel fruchtbarem Boden, der auf Siedler wartete. Unzählige Menschen fielen darauf herein, kauften von MacGregor Grund, ließen sich hohe Posten in dem Traumland versprechen und erlebten eine böse Überraschung, als sie sich auf den Weg in ihre neue Heimat machten. Statt eines blühenden Staates mit fürstlichem Schloss, belebten Straßen und Opernhaus fanden sie einen verarmten Küstenstrich vor, mit Eingeborenen, die so viele ungebetene Gäste nicht versorgen konnten. Viele der Aussiedler starben an Gelbfieber, Malaria und Unterernährung, die Überlebenden wurden gerettet, nachdem sich in London erste Gerüchte verbreitet hatten. Gregor MacGregor beharrte noch lange auf die Existenz von Poyais und kam für seinen tödlichen Schwindel weitestgehend straffrei davon, da er gute Verbindungen besaß.
Was lernen wir daraus? Nicht jeder Betrug endet „nur“ mit Verlust von Geld und Stolz. Manchmal verlieren Menschen dabei alles, einschließlich ihres Lebens. Die Geschichte von Gregor MacGregor und seinem erfundenen Land regt gerade in einer Zeit, in der Schlepperbanden mit haltlosen Versprechen Menschen in reichere Länder schleusen, in denen Haus, Auto und Bankkonto aber gar nicht auf den Bäumen wachsen, sehr zum Nachdenken an. Es muss für die Auswanderer, darunter Farmer, Ärzte und Künstler, ein unglaublicher Schock gewesen sein, als sie plötzlich vor dem absoluten Nichts standen. Einige mag vor allem die Aussicht auf schnelles Gold getrieben haben, viele aber auch die ehrliche Hoffnung auf ein neues, besseres Leben.
Der Goldmacher
In den 1920er Jahren behauptete ein Mann namens Franz Tausend, er könne auf chemischem Wege Gold herstellen. Viele Geldgeber fielen auf ihn herein, darunter auch Größen aus der damaligen Politik, und kauften dem gelernten Drogeristen „Goldgutscheine“ ab. Tausend kaufte sich von dem erschwindelten Geld mehrere Schlösser, flog aber schließlich auf und landete hinter Schloss und Riegeln.
Was lernen wir daraus? Seit Rumpelstilzchen sollte eigentlich klar sein, dass Individuen, die anbieten, aus etwas Wertlosem Gold zu machen, nicht zu trauen ist. Über die Jahrhunderte sind immer wieder Menschen auf Alchemisten hereingefallen, die von Wasser bis Pferdemist alles Mögliche angeblich zu Gold machen konnten. Wozu diese Genies, obwohl sie vorgeblich zur Herstellung von Gold in der Lage waren, dann noch das Geld anderer Leute benötigten, darüber haben diese anderen Leute leider zu selten nachgedacht.
Polnischer-Bunker-Mythos
Am 13. Juni 1951 berichtete die amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press (AP) von zwei Wehrmachtssoldaten, die im polnischen Gdingen über sechs Jahre lang in einem verschütteten, mit Lebensmitteln und Spirituosen gefüllten Bunker überlebt haben sollen. Die Geschichte wurde unter anderem in Deutschland weithin thematisiert, obwohl es nie Beweise für ihren Wahrheitsgehalt gab.
Was lernen wir daraus? Nicht jeder Humbug wird oder wurde von der BILD in die Welt gesetzt. Auch andere Medien beweisen gelegentlich ihre erstaunliche Gabe zum Märchenerfinden. Applaus, Applaus.