„Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist“

Wäre das nicht mal ein genialer Titel für einen Beziehungsratgeber? Ich mein ja nur. Ned Beaumans Roman gibt keine Tipps für eine bessere Bewältigung des Ehelebens, liefert aber viele Ideen zu Themen wie Rache, Manipulation, Unterdrückung, Verschwörung und diverse Begleiterscheinungen von Wahnsinn. Nebenbei beinhaltet er eine Anleitung zur Herstellung von Filmmaterial mitten im tiefsten Dschungel.

Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist

Wahnsinn!

„Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist“ war nicht mein erster Roman von Ned Beauman, von daher wusste ich vorher, worauf ich mich einlasse. Beaumans Geschichten pflegen verschachtelt zu sein, zwischen Zeiten und Orten zu wechseln und nicht unbedingt von geistig gesunden, vertrauenswürdigen und gesellschaftlich voll akzeptierten Menschen zu handeln. Der Londoner Autor versucht gerne, die Leser selbst ein wenig in den Wahnsinn zu treiben und sie mit Storys voller Fallstricken, Hintertürchen und unerwarteten Einschüben gleichzeitig in den Bann zu ziehen und aus der Bahn zu werfen. Beauman erzählt Geschichten, die nicht normal sind, und er erzählt sie nicht auf normale Weise.

Am Tempel ist die Hölle los

Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist

Buchcover. Quelle: Hoffmann und Campe (Abteilung Tempo)

1938 wird im Dschungel von Spanisch-Honduras ein mysteriöser Tempel entdeckt. Der einflussreiche New Yorker Geschäftsmann Elias Coehorn Sen. beauftragt ein Team unter der Führung seines verzogenen Sohnes Elias Coehorn Jr. damit, den Tempel abzutragen, um ihn in den USA als Attraktion wieder aufzubauen. Zur gleichen Zeit heuert der exzentrische Filmproduzent Arthur Spindler den unerfahrenen Regisseur Jervis Whelt an, mit einer Filmcrew nach Spanisch-Honduras zu reisen, um an dem frisch entdeckten Tempel als authentische Kulisse einen Film mit dem Titel „Herzen in der Finsternis“ zu drehen. Als Whelt mit seiner Crew eintrifft, haben Coehorn Jr. und seine Leute bereits die Hälfte des Tempels abgebaut. Die Coehorn-Truppe weigert sich beharrlich, ihr Vorhaben aufzugeben und das kultische Bauwerk wieder in seinen Originalzustand zu versetzen, während das Filmteam an seinem Plan festhält und kurzerhand den Abbau der zweiten Tempelhälfte blockiert. Niemand will auch nur einen Zentimeter zurückweichen.

So vergeht die Zeit. Die Welt taumelt in den Zweiten Weltkrieg und vergisst die beiden amerikanischen Gruppen, die nach Spanisch-Honduras gereist und nicht wieder zurückgekehrt sind. Mit der Zeit kommt es in beiden Lagern zu Katastrophen, Allianzen und Machtverschiebungen. 20 Jahre später kämpft sich der ehemalige Journalist und CIA-Agent Zonulet durch ein riesiges Archiv, um zu beweisen, dass das, was er über den Tempel herausgefunden hat, der Wahrheit entspricht und jenes, was letztlich dort geschah, nicht seine Schuld war. Das Letzte, was er will, ist an den Ort im Dschungel zurückzukehren, doch eine Person aus seiner Vergangenheit, deren eigenes Schicksal auf tragische Weise mit dem Tempel verbunden ist, versucht seine Meinung zu ändern.

Das geschriebene Wort

Zonulet ist der Erzähler. Obwohl sich die meisten Leser selten große Gedanken um den Erzähler eines Romans machen, sind zwei Vertreter dieser Gattung besonders vertraut: Der Ich-Erzähler, der die Handlung aus seiner persönlichen, aber etwas limitierten Perspektive erzählt, und der allwissende Erzähler, der die Taten und Gedanken aller involvierten Personen kennt. Im Roman „Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist“ nimmt der Charakter Zonulet beide Erzähl-Perspektiven gleichzeitig ein: Er ist ein Ich-Erzähler, der alle ihn betreffenden Ereignisse aus seiner Perspektive beschreibt und der uns parallel mit umfassendem Wissen schildert, was rund um den Tempel passierte, was von den Charakteren dort gedacht wurde und was sie empfunden haben, obwohl er selbst nur zeitweise anwesend war. Das ergibt erst einmal keinen Sinn, was einer Herausforderung an die Leser gleichkommt, herauszufinden, wie das möglich sein kann. Wer ist dieser Mr. Zonulet? Ist er die Verkörperung des Wahnsinns, verwaltet er ihn nur oder durchschaut er ihn?

Unterstützt wird Zonulet als Erzähler zunächst vor allem durch eingeschobene Briefe einer Frau namens Grace, die als Mitglied der Filmcrew von „Herzen in der Finsternis“ das Geschehen erlebt. Die Briefe geben uns Einblicke in das Leben am Tempel und erzählen gleichzeitig eine eigene, kleine Geschichte von Liebe und Verrat. Grace hat ein Geheimnis, das auf keinen Fall ans Licht kommen darf in einer Welt fernab der Banken und Geschäfte, in der Informationen zu einer eigenen Währung werden.

Später kommt eine – nennen wir sie mal so – „Gast-Autorin“ hinzu, die Zonulets Erzählungen, in denen sie selbst auftritt und die sie liest, ergänzend kommentiert. Sehr selbstreferentiell weist sie dabei auf typische Probleme und Schwächen literarischer Manuskripte hin. Sie macht auf Diskrepanzen im Verhältnis zwischen Erzähler und Leser sowie zwischen Erzähler und handelnder Figur aufmerksam.

Die Methodik des Wahnsinns

Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen istDer wesentliche Kern der Handlung steht bereits im Romantitel: Wahnsinn. Die Farbe Grau mag 50 Schattierungen haben, der Wahnsinn hat definitiv mehr. In ihm verstecken sich unzählige Formen und Töne, die schwer zu erfassen sind. Aus unserer Lesersicht ist das Verhalten der 131 Menschen, die ihr altes Leben komplett aufgeben und im Dschungel von Spanisch-Honduras ausharren, vollkommen irrsinnig und kaum nachvollziehbar, doch handeln die Charaktere innerhalb dieses Irrsinns sehr konsequent. Sie behalten ihre jeweiligen Ziele vor Augen, völlig ungeachtet der immer tiefer sinkenden und bald gegen Null tendierenden Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Umsetzung.

Daher wird „Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist“ nie wirklich zu einer Survival-Geschichte, die das Ringen um Grundbedürfnisse wie Nahrung und Wasser in den Mittelpunkt stellt. Die in zwei Gruppen gespaltenen Tempelbewohner versuchen, ihre Vorstellungen von der Welt, ihren persönlichen Kosmos, trotz der Bedingungen zu bewahren. Essen ist gut und wichtig, doch der Regisseur braucht Filmmaterial und der Journalist Papier. Wenn dafür Opfer gebracht werden müssen, dann ist das eben so. Der Hauptdarsteller des geplanten Films fühlt sich im Dschungel dazu berufen, der Held zu sein, der er laut Drehbuch ist, wilde Tiere hin oder her, der reiche New Yorker akzeptiert den Verlust seines Einflusses nicht und ein Neuankömmling hält sein Lügenkonstrukt aufrecht, komme, was da wolle. Logik und Weitsicht werden durch fixe Ideen ersetzt, die niemand aufgeben will. Das ist Wahnsinn mit Methode – unser Erzähler Zonulet nennt es „heldenhafte Psychose“.

Wir, die Leser und nach eigenem Empfinden völlig klar im Kopf, versuchen, den Hintergründen auf die Spur zu kommen. Von der ersten bis zu letzten Seite, was insgesamt 476 Seiten ergibt, stehen wir vor der reizvollen Herausforderung, alles zu erfassen und das Gesamtbild zu erkennen. Vor allem wollen wir erfahren, was aus den beiden Lagern am Tempel wird, immer mit dem Wissen, dass der Wahnsinn eigentlich nie ein Ende hat. Schon gar kein gutes.

Verrückt, dieser Geniestreich

Ned Beauman zieht auch mit diesem Roman das Exzentrische und Komplexe dem Einfachen und Gewöhnlichen vor, vielleicht so deutlich wie bei keinem seiner bisherigen Werke zuvor. Er präsentiert uns eine raffinierte, intelligente Geschichte, die mit der Idee spielt, was ein Erzähler ist, weiß und tut und die jenen Wahnsinn auslotet, der Menschen zu ungeahnten Höhe- oder Tiefpunkten treibt. Es ist ein Roman über Menschen, die sie sich selbst und andere belügen, die besessen sind von Dämonen, deren Ursprünge die Zivilisation sind. „Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist“ verlangt ob seiner Komplexität Aufmerksamkeit von jedem Leser, verdient sich diese durch viel Einfallsreichtum, hintergründigen Humor und Mut aber auch.

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