Die Qual der dunklen Geheimnisse: „The Keepers“

Bei Filmen und Fernsehserien, die rein fiktive Geschichten erzählen, bestehe ich geradezu auf Happy Ends. Dokumentationen wie „The Keepers“ erinnern mich wieder daran, warum das so ist: Weil es in der Realität allzu oft kein gutes Ende gibt, weil Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden und Institutionen, die zu unserem Schutz gedacht sind, mitunter versagen. Manchmal sogar absichtlich.

The Keepers

Verbrechen verjähren, Beweismittel verschwinden, potentielle Täter werden aus der Schusslinie genommen. Das passiert vermutlich viel öfter, als wir es uns eingestehen möchten. Zugleich wird es für die Verantwortlichen immer schwieriger, das versehentliche oder willentliche Versagen unter den Teppich zu kehren. Kalte Fälle werden durch neue technische und forensische Möglichkeiten wieder heiß – und durch Netflix. Das klingt ein bisschen albern, ist aber so. Die Streamingplattform erregt mit aufwendigen Dokumentationen über reale Kriminalfälle weltweites Aufsehen. Sie produziert diese entweder selber oder kauft sie ein, um sie einem breiten Publikum, statt nur Insidern zugänglich zu machen. Dazu gehören „Making a Murderer“, „Amanda Knox“, „Team Foxcatcher“, „Casting JonBenet“ und nun auch „The Keepers“. Natürlich kann ein Unterhaltungsmedium wie Netflix mit seinen Produktionen keine Gerichtsurteile erwirken oder begangenes Unrecht ungeschehen machen, aber es kann zumindest Druck erzeugen, der Öffentlichkeit die Augen öffnen und gewissen Personen, die es verdient haben, schlaflose Nächte bereiten.

Wer tötete Schwester Cathy?

The Keepers

Poster. Quelle: Netflix

Die Miniserie „The Keepers“ besteht aus sieben Folgen á 60 Minuten, wobei eine Fortsetzung durchaus im Bereich des Möglichen liegt, denn der Fall ist alles andere als abgeschlossen. Dieser besagte Fall ist zunächst einmal der Mord an der 26-jährigen Nonne und Lehrerin Schwester Catherine „Cathy“ Cesnik, deren Leiche am 3. Januar 1970 aufgefunden wurde, nachdem die junge Frau zwei Monate als vermisst galt. Die überaus beliebte Schwester Cathy unterrichtete an der katholischen Mädchenschule Archbishop Keough High School in Baltimore und lebte im Rahmen eines kirchlichen Experiments nicht im Kloster, sondern in einer eigenen Wohnung zusammen mit einer anderen Nonne aus ihrem Orden. Cathy verschwand am Abend des 7. Novembers 1969 als sie ein Verlobungsgeschenk für ihre Schwester kaufen und andere Besorgungen erledigen wollte. Ihr verlassenes Auto wurde in der Nähe ihrer Wohnung entdeckt. Es war voller Matsch und Zweige und damit nicht in dem Zustand wie vor Cathys Abfahrt.

Nur kurz nach Schwester Cathy verschwand eine weitere junge Frau aus der Gegend, die 20-jährige Joyce Malecki. Auch sie war einkaufen gewesen, auch ihr Auto wurde verlassen aufgefunden. Nach einigen Tagen fand man ihre Leiche, wohingegen Cathy bis zum 3. Januar verschwunden blieb. Ihre Leiche entdeckten Jäger auf einer kleinen, abgelegenen Mülldeponie. Der Fall der getöteten Nonne erregte große Aufmerksamkeit im katholisch geprägten Baltimore. War sie ein Zufallsopfer oder kannte sie ihren Mörder? Sind sie und Joyce Malecki demselben Täter zum Opfer gefallen? Trotz des medialen Interesses machte die Polizei keine Fortschritte. Es wurde niemand verhaftet.

Erst Anfang der 1990er Jahre kam wieder Bewegung in den Fall, als sich eine Frau, die zu ihrem Schutz anonym blieb und nur „Jane Doe“ genannt wurde, an die Behörden wandte. Sie war gerade dabei, lange unterdrückte Erinnerungen an schreckliche Erlebnisse wiederzuerlangen. Als Schülerin an der Archbishop Keough High School wurde sie systematisch von dem dort tätigen Priester Joseph Maskell missbraucht. Schwester Cathy erfuhr damals von den Untaten und wollte dem Mädchen helfen – wenig später geschah der Mord. Einige Wochen bevor die Leiche der Nonne offiziell entdeckt wurde, führte Maskell „Jane Doe“ zu dem toten Körper und warnte das damals 17-jährige Mädchen davor, sich jemals wieder jemandem anzuvertrauen. Was sie 20 Jahre lang nicht tat.

Lautes Schweigen

Als „Jane Doe“ mit ihren Anschuldigungen gegen Maskell zur Erzdiözese von Baltimore ging, schien es zunächst, als würde man ihr dort helfen. Ihr wurde sogar ein Anwalt zur Seite gestellt. Erst nach einer Weile erkannte die Frau, dass die Kirche ihr nicht die Hand reichen, sondern ihr Steine in den Weg legen wollte. Auf eigene Faust und mit der Hilfe ihrer Großfamilie gelang es ihr, weitere Missbrauchsopfer von Maskell ausfindig zu machen. Nicht nur das: Durch den Hinweis eines ehemaligen Friedhofsgärtners stieß die Polizei auf zahlreiche Akten, die Maskell in seiner Zeit an der Archbishop Keough High School geführt hatte und vergraben ließ, nachdem „Jane Doe“ auf der Bildfläche erschienen war. Mehrere Opferaussagen, schriftliche Beweismittel, die der Beschuldigte verschwinden lassen wollte – das klingt nach einem soliden Gerüst für einen Gerichtsprozess. Leider nicht für die Staatsanwaltschaft von Baltimore. Die erhob keine Anklage gegen Maskell, seines Zeichens auch Kaplan der Polizei von Baltimore. Weder der Staat noch die Kirche waren bereit, „Jane Doe“ zu ihrem Recht zu verhelfen. Ihre Aussagen bezüglich der Leiche von Schwester Cathy wurden geradezu ins Lächerliche gezogen.

Wieder ruhte die Angelegenheit für mehrere Jahre. Maskell ist inzwischen verstorben. Doch dann begannen zwei andere ehemalige Schülerinnen von Schwester Cathy, Gemma Hoskins und Abbie Schaub, eigene Ermittlungen anzustellen. Sie gründeten eine Facebookgruppe, um Beweise zusammenzutragen. Das führte letztlich zu der Entstehung dieser Doku-Reihe und zu „Jane Does“ Schritt aus der Anonymität. Jean Wehner, die Frau hinter dem Alias, ist eine zentrale Figur in „The Keepers“. Was sie zu erzählen hat, lässt sich kaum ertragen.

Hinter verschlossenen Türen

Hinter verschlossenen TürenDie sieben Folgen von „The Keepers“ sind nicht linear aufgebaut. Sie springen zwischen verschiedenen Zeitpunkten hin und her. Oft tauchen zu Beginn einer Folge neue Personen auf, die der Zuschauer erst einmal einordnen muss. Diese Doku spinnt ein Netz, das mehrere Jahrzehnte umfasst. Der Zuschauer wird in dieses Netz eingewoben und erfährt Stück für Stück alles, was es zu Wissen gibt. Wir lernen die verschiedenen entscheidenden Figuren kennen, von Missbrauchsopfern über Ermittler und Journalisten bis hin zu Zeugen und Verdächtigen. Maskell lebt nicht mehr, doch gilt es ohnehin als unwahrscheinlich, dass er den Mord selbst oder ganz alleine ausgeführt hat. Stattdessen erregen zwei Männer, deren Familien seltsame Beobachtungen gemacht haben, die Aufmerksamkeit.

Es gibt keinen zentralen Erzähler aus dem Off, der alles zusammenfasst. Die Geschichte wird von den betroffenen Personen sowie durch alte Fernsehausschnitte und mit der Hilfe von Fotos und Zeitungsartikeln erzählt. Unterlegt ist das Ganze mit sehr wenigen Spielfilmszenen, die nichts Explizites zeigen, sondern nur Andeutungen machen: Ein Mädchen, das durch einen Flur geht, eine Tür, die ins Schloss fällt, ein Mann, der von einem Stuhl aufsteht. Diese Bilder wiederholen sich, verlieren dadurch aber nichts von ihrer Ausdrucksstärke. Im Gegenteil. Erst nach und nach kann der Betrachter diese Bilder gedanklich mit Inhalten füllen und sich ausmalen, was wirklich passiert ist mit diesem Mädchen und hinter dieser Tür.

Wer sich nicht bereits vorher über den Fall informiert hat, der erwartet vor allem eine Dokumentation über einen Mord. Dass ein Schwerpunkt dieser Geschichte sexueller Missbrauch ist, dürfte manchen Zuschauer kalt erwischen. Schwester Cathy rückt als Opfer nicht in den Hintergrund, sie bleibt immer präsent, aber wir lernen noch andere Opfer kennen, die zwar überlebt haben, jedoch nicht die Menschen sind, die sie eigentlich wären, hätten sie Hilfe erhalten – oder wenigstens Gerechtigkeit.

Das Versagen von Kirche und Staat

Wir werden in den sieben Folgen durch viele Emotionen geschickt, Fassungslosigkeit tritt dabei besonders häufig auf. Was mir besonders in Erinnerung geblieben ist, sind die vielen kleinen Details, die diese Doku aufdeckt und die mehr als nur ein paar Zweifel an der Integrität und/oder Kompetenz der Behörden aufkommen lassen. Ein Beispiel: „Jane Doe“ alias Jean Wehner erwähnt in ihrer Aussage bezüglich der Leiche von Schwester Cathy, zu der sie von Pfarrer Maskell geführt worden ist, diese wäre voller Maden gewesen. Dies wurde von höheren Stellen häufig als Argument angeführt, dass Jean die Unwahrheit sagt, da es zu kalt für Maden gewesen sei, doch im Autopsiebericht steht eindeutig, dass in der Leiche Maden gefunden wurden. Die Wetteraufzeichnungen belegen außerdem, dass es zum Zeitpunkt von Cathys Ermordung noch recht warm war. Kalt war es erst, als die Leiche im Januar entdeckt wurde. Dass Jean damals von den Maden wusste, ist somit ein Beleg, dass sie den toten Körper der Nonne tatsächlich schon früher gesehen hat. Wir sprechen hier nicht von einem klaren Beweis, aber zumindest einem Indiz zu ihren Gunsten und nicht zu ihren Ungunsten.

The KeepersAnderes Beispiel: Laut den Behörden gab es keine Verbindung zwischen Schwester Cathy und dem anderen Mordopfer Joyce Malecki. Aus Zeugenaussagen geht jedoch hervor, dass Joyce Pfarrer Maskell ebenfalls kannte. Er hat ihrer Familie sogar geschrieben, nachdem ihre Leichte entdeckt wurde. Von „keiner Verbindung“ kann wohl kaum die Rede sein, wenn beide Opfer mit einer zentralen Figur der Ereignisse bekannt waren. Darüber hinaus erklärt die Erzdiözese von Baltimore offiziell, dass es vor „Jane Does“ Aussagen in den 1990er Jahren keine Anschuldigungen gegen Maskell gab. In Wahrheit wurde er schon in den 1960er Jahren wegen eines Missbrauchsskandals versetzt – an die Archbishop Keough High School.

Ich betrachte Dokumentationen durchaus kritisch und bilde mir eine eigene Meinung. Mir ist klar, dass wir als Außenstehende viele Informationen, welche die Polizei besitzt, nicht kennen. Ich weiß auch, dass nicht jede Person, nur weil sie vor einer Kamera sitzt, die reine Wahrheit erzählt. Die Ungereimtheiten in diesem Fall lassen sich jedoch nicht wegdiskutieren. Es schreit zum Himmel, dass alle wichtigen Beweismittel, wie die ausgegrabenen Akten von Maskell, verschwunden sind, was die Behörden mehr oder weniger mit „Shit Happends“ rechtfertigen. Schließlich war damals alles noch auf Papier und Papier verschwindet eben. Zu blöd, dass diese Dokuserie nicht auf Papier geschrieben ist und folglich nicht verschwindet. Wird das etwas ändern? Vielleicht nicht, aber gegen das Vergessen ist es schon einmal ganz gut.

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