In meinen jungen Jahren habe ich viel und gerne Kurzgeschichten geschrieben. Die Ergebnisse waren … nun ja, sagen wir, ich war stets bemüht. Wenn ich daran denke, dass eine meiner Storys von einem außerirdischen Krieger namens Waldo handelte … bemüht, bleiben wir bei bemüht.
Auch als die Grundideen meiner Kurzgeschichten etwas besser wurden, blieb das Problem, dass nach einem meist ganz guten Anfang der Mittelteil vollkommen außer Kontrolle geriet, so dass ich irgendwann hastig zu einem Ende kommen musste. Es heißt schließlich „Kurzgeschichte“, nicht „Halbroman“. Je älter ich wurde, desto ehrlicher konnte ich mir eingestehen, dass Kurzgeschichten meine Sache nicht sind. Ich fokussierte mich stattdessen auf Sachtexte, wie etwa Filmreviews, Buchkritiken oder Beschreibungen historischer Ereignisse. Damit war ich zufrieden, wenn auch nicht vollauf. Dann stieß ich auf das Prinzip der Drabbles …
Mit 100 Wörtern
Drabbles sind pointierte Geschichten, die aus ganz genau 100 Wörtern bestehen. Die Überschrift wird nicht mitgezählt. Bei dieser Kürze, so würzig wie ein Currygericht an einem Straßenstand in Indien, bleibt keine Zeit für eine lange Einleitung und einen ausufernden Mittelteil. Die Geschichte beginnt unmittelbar und ist so schnell wieder zu Ende, dass der Leser sehr viel Zeit hat, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Es ist nicht leicht, Drabbles zu schreiben, aber es hat sehr viel Reizvolles an sich. Man kann einige Techniken ausprobieren, in Genres reinschnuppern und sich vielleicht sogar Anregungen für größere Schreibprojekte holen. Es ist Spiel und Training in einem.
Ich begann also damit, Drabbles zu schreiben. Einfach so, als Zeitvertreib und Form der Entspannung. Über die Jahre sind mir viele meiner Drabbles wieder abhanden gekommen, aber 100 Wörter zu verlieren ist definitiv leichter zu verkraften, als drei Seiten wissenschaftlicher Arbeit versehentlich ins Nichts verschwinden zu lassen. Leider spreche ich aus Erfahrung. Ursprünglich hatte ich nie vor, meine Drabbles zu veröffentlichen, zumal sie alle in sehr unterschiedlichen Phasen meines Lebens entstanden sind, aber da ich es schade finde, dass die Kunst- und Spielform Drabble sehr unterrepräsentiert ist, besonders in Deutschland, habe ich mich entschlossen, doch nach und nach einige meiner alten und neuen 100-Wörter-Geschichten ins Netz zu stellen. Das ganze Projekt nenne ich Drabble100 und es findet hier statt.
Ein Drabble
Lassen wir die Drabbles für sich selbst sprechen. Hier ist eines meiner Werke. Ihr könnt ruhig nachzählen, es sind genau 100 Wörter. Wer bei Drabbles schummelt, sollte lieber Briefmarken sammeln.
Der Angriff
Hektisch rüttelte sie an dem Schlüssel, der sich völlig im Schloss verhakt hatte. Das passierte bei ihrer Haustür häufig, aber in diesem Moment war es das schlimmste, was ihr widerfahren konnte. Sie spürte die Bedrohung in ihrem Nacken. Er kam näher, nur langsam zwar, aber unbestreitbar direkt auf sie zu. Panik überfiel sie. Für einen Moment dachte sie daran, das Feuerzeug in ihrer Tasche als Waffe zu benutzen, aber das erschien ihr gleich darauf lächerlich. Endlich löste sich der Schlüssel, aber die Tür blieb verschlossen. Jetzt war es zu spät. Er war neben ihr, berührte sie leicht. Dieser widerliche Käfer.