Zu einem Nikolaus gehört immer ein Knecht Ruprecht, denn wo die Guten belohnt werden, müssen die Bösen Bestrafung erfahren. Weihnachten war stets geprägt von dem Gegensatz zwischen Licht und Schatten, zwischen brav und frech, zwischen fleißig und faul. Das haben viele Menschen nur vergessen, da Weihnachten in den vergangenen Jahrzehnten mit duftendem Waschmittel weichgespült wurde.
Der Blick in die verschiedenen christlichen Kulturkreise offenbart die Existenz vieler unheimlicher Weihnachtskreaturen, die einen klaren Kontrast zu Lichtgestalten wie dem Christkind, Nikolaus oder dem Weihnachtsmann bilden. In Deutschland haben wir den bereits erwähnten Knecht Ruprecht, mit dem nicht zu spaßen ist, in Österreich und Teilen Osteuropas den dämonischen Krampus und in Island die Jólakötturinn.
Katzenhorror zu Weihnachten
Die Jólakötturinn, auch Jólaköttur, oder ins Deutsche übertragen einfach „Weihnachtskatze“, hat so viel mit einem Schmusetier gemeinsam wie eine Zuckerstange mit einem Marterpfahl. Die Weihnachtskatze ist ein garstiges Biest, größer als eine normale Katze, und mit Appetit auf Menschenfleisch. Der Legende nach taucht sie zu Weihnachten auf und verspeist faule Menschen, die es nicht geschafft haben, rechtzeitig zum Fest ihre Schafe zu scheren und die Wolle zu neuer Kleidung zu verarbeiten. Sicher vor der Weihnachtskatze sind daher nur Kinder und Erwachsene, die zu Weihnachten neue Kleidung tragen. Der Mythos der Jólakötturinn lässt sich daher als eine Aufforderung zum Fleiß verstehen und geht auf den überlebensnotwendigen Arbeitseifer in der rauen Natur Islands zurück. Als Mahnung an die Kinder, brav zu sein und sich an Weihnachten schick anzuziehen, taugt das unheimliche Miezekätzchen ebenfalls. Manche weihnachtsgestresste Eltern sollen der Jólakötturinn dafür sogar schon dankbar gewesen sein.
Die ältesten schriftlichen Überlieferungen über die Weihnachtskatze stammen aus dem 19. Jahrhundert. Ob diese Schauergestalt schon davor in Island bekannt war, lässt sich nicht mehr zweifelsfrei feststellen. Alle Zeugen wurden gefressen. Die Jólakötturinn gilt gemeinhin als das Haustier der Hexe Gryla, deren 13 Söhne, die Jólasveinar, zwischen Dezember und Januar ebenfalls ihr Unwesen treiben. Allerdings sind diese frechen Zwerge im Vergleich zu ihrem Haustier recht harmlos. Sie sind für Schabernack wie das Ausschlecken von Pfannen, das Klauen von Würstchen und das Knallen mit Türen bekannt. Auch über die Weihnachtskatze heißt es, dass sie manchmal „nur“ das Weihnachtsessen derer verschlingt, die keine neue Kleidung tragen. Auf diese Gnade verlassen sollten sich Isländer, weder die kleinen noch die großen, allerdings nicht. Die Weihnachtskatze ist ein echtes Biest – und Hunger hat sie immer.
Katzenmusik
Eine schöne Beschreibung der Weihnachtskatze liefert ein Gedicht des isländischen Schriftstellers Jóhannes úr Kötlum, aus dem die bekannteste Musikerin Islands, Björk, einen Song namens „Jolakötturinn“ kreiert hat. Leider habe ich in der Schule im Isländisch-Unterricht nicht so gut aufgepasst, aber zum Glück gibt es englische Übersetzungen des Liedes. So heißt es über das Erscheinungsbild der Weihnachtskatze:
His whiskers, sharp as bristles,
his back arched up high.
And the claws of his hairy paws
were a terrible sight.
Was nicht unbedingt poetisch, aber zumindest korrekt übersetzt bedeutet:
Ihre Schnurrhaare so scharf wie Borsten,
ihr Rücken hoch erhoben.
Und die Krallen an ihren haarigen Pfoten
waren ein schrecklicher Anblick.
Zum Verhalten der Weihnachtskatze und dem besten Schutz vor ihr lässt sich unter anderem folgende Strophe anführen:
For all who got something new to wear
stayed out of that pussy-cat’s grasp.
He then gave an awful hiss
but went on his way.
—
Alle, die etwas Neues trugen,
entkamen dem Griff dieser Katze.
Sie gab ein schreckliches Zischen von sich,
aber ging ihres Weges.
Heute wird der Mythos der Weihnachtskatze überdies gerne als Aufforderung interpretiert, ärmeren Mitmenschen, die sich keine neuen Kleider, keine Geschenke und kein Essen zu Weihnachten leisten können, zu helfen:
Now you might be thinking of helping
Where help is needed most.
Perhaps you’ll find some children
That have nothing at all.
—
Jetzt denkst du vielleicht daran zu helfen,
wo Hilfe am dringendsten gebraucht wird.
Vielleicht findest du ein paar Kinder,
die gar nichts haben.
Stille Nacht, schaurige Nacht
Für die meisten Familien heute undenkbar, war es früher Brauch, sich an Heiligabend Geistergeschichten zu erzählen, ob nun über menschenfressende Katzen, böse Hexen, mordende Dämonen oder fiese Trolle. Das war wohlgemerkt vor der Erfindung des Radios und des Fernsehens, als sich die Menschen schrecklicherweise noch gegenseitig unterhalten mussten. Es kommt nicht von ungefähr, dass eine der bekanntesten Weihnachtsgeschichten überhaupt, jene von Charles Dickens aus dem Jahr 1843, eine ziemlich schaurige Story ist und von einem Mann handelt, den drei Geister heimsuchen. Geister, keine Weihnachtsmänner, nicht einmal Wichtel – echte Geister! In Deutschland erschien die Erzählung zunächst als „Eine Geistergeschichte zum Christfest“, ist aber verbreiteter unter dem Titel „Eine Weihnachtsgeschichte“.
Heute überlassen wir das mit den schaurigen Elementen größtenteils dem Halloweenfest, aber Spuren jener alten Grusel-Tradition zu Weihnachten finden sich noch an vielen Stellen, etwa in dem bekannten Weihnachtssong „It’s the Most Wonderful Time of the Year“ von Andy Williams aus dem Jahr 1963. Darin heißt es:
There’ll be parties for hosting
Marshmallows for toasting
and caroling out in the snow.
There’ll be scary ghost stories
and tales of the glories of the
Christmases long, long ago.
Es wird Feiern zu veranstalten geben
Marshmallows zum Anstoßen
und Weihnachtsgesang draußen im Schnee.
Es wird gruselige Geistergeschichten geben
und Geschichten über herrlichenWeihnachtsfeiern vor langer, langer Zeit.
Der sprichwörtliche „Geist von Weihnachten“ ist manchmal tatsächlich genau das: ein Geist. Oder eben eine riesige, modisch übertrieben kritische Katze mit Lust auf Menschenfleisch.