„Nehmen Sie gefälligst die blöde Krone ab. Was für eine Respektlosigkeit!“ Dieses Zitat aus Hans Erich Nossacks Erzählung „Der König geht ins Kino“ bringt es auf den Punkt: Berühmte und beliebte Märchenelemente passen schwerlich in unseren heutigen Alltag und wirken dort schräg und unpraktisch. Das wiederum eröffnet viele kreative Möglichkeiten.
Wenn wir uns an Märchen zurückerinnern, ob nun an jene aus der Sammlung der Gebrüder Grimm oder an eine der verniedlichten Disney-Versionen, fallen uns spontan eine ganze Reihe typischer Motive ein. Wir denken an Schlösser, Ballkleider und Zauberstäbe, an sprechende Tiere, magische Gegenstände, extrem schnellwachsende Pflanzen, Flüche, Verwandlungen und natürlich Happy Ends, die jeder Logik entbehren. Im ganzen Königreich gab es keine andere Frau mit derselben Schuhgröße wie Aschenputtel? Was hatte die arme Frau bloß für Füße?
Der Wolf ist zurück, versteckt die Großmütter!
Märchen sind eine wunderbare Inspiration, um mal einen anderen Blick auf die Realität zu werfen. „Ein Königreich für ein Thema!“ denken sich Schreibende nur allzu oft den Tränen nahe – Märchen bieten tausende solcher Königreiche. Die ersten Ideen und Bilder, die in meinem Kopf aufpoppen, wenn ich an die Übertragung von Märchen in die Gegenwart denke, sind stark satirischer Natur. Ich nehme an, dass das tapfere Schneiderlein heute doch ziemliche Probleme bekäme, wenn die Öffentlichkeit annehmen würde, es hätte sieben Menschen „auf einen Streich“ getötet. Außerdem nennt sich kaum ein moderner Schneider noch freiwillig „Schneiderlein“, schon gar nicht während eines Prozesses wegen siebenfachen Mordes. Auch ein Mann, der einfach mal so eine ihm unbekannte, schlafende Frau küsst, die in keiner Weise ihr Einverständnis dazu gegeben hat, wird dieser Tage eher als Perversling denn als Prinz abgeurteilt. Ein gefundenes Fressen für Anwälte dürfte außerdem das Lebkuchenhaus sein, welches nicht einmal 10% der Bauvorschriften erfüllt. Die Schlagzeilen können wir uns ausmalen: „Spaziergänger von herabstürzender Erdberrschokoladendachziegel erschlagen!“ Für den Knüppel aus dem Sack bekommt der moderne Bürger wohl auch nur in den USA auf die Schnelle einen Waffenschein.
Apropos Märchengewalt. Dein Bruder hat einfach das letzte Stück Pizza gegessen? Sofort seinen Bauch aufschneiden, das Pizzastück herausholen, Steine hineinlegen und wieder zunähen. Ärzte warnen zwar vor einem solchen Vorgehen, doch so lange der Bruder nicht schwimmen geht, kann nicht viel passieren. Als Bildungsoffensive sollten angehende Friseurfachkräfte zum Ende ihrer Ausbildung Rapunzel eine modische Kurzhaarfrisur schneiden müssen. Das ersetzt locker zwei Jahre Berufserfahrung. Als Sichtschutz vor lästigen Nachbarn dürften zukünftig riesige Dornenhecken Standard werden. Gelegentliche Fälle von vermisstem Postzustellungspersonal sind dabei bereits einkalkuliert.
„Wie im Märchen“ ist zwar eine positive Phrase, die ausdrückt, dass etwas ganz wundervoll ist, aber bei ehrlicher Betrachtung will kaum einer von uns wirklich in einem Märchen leben. Eine Hütte im Wald sauber halten, in der sieben kleinwüchsige Männer jeden Tag mit ihren Arbeitsstiefeln herumtrampeln, und das ganz ohne WLAN? Nein, eher nicht! Sich von einem sprechenden Brot sagen lassen, wann man es aus dem Ofen zu nehmen hat? Auf Dauer vermutlich lästig. Obwohl … in einer Zeit, in der alle Geräte immer smarter werden, hören wir im Prinzip bereits auf leblose Objekte. In dem Punkt haben Märchen gewissermaßen die Zukunft vorausgesagt. Nur mit Gold überschüttet werden wir nicht, wenn wir den meckernden Eierkocher ausstellen.
Bitte nicht wörtlich nehmen!
Bekannte Märchen oder Teile daraus zu modernisieren muss freilich nicht in Satiren, Parodien oder Komödien enden. Märchen stecken ungeachtet ihrer unmodernen und unrealistischen Details voller zeitloser Ideen. Deshalb leben sie bis heute so erfolgreich fort. Aus „Hänsel und Gretel“ können wir das Lebkuchenhaus und den Part mit dem Kinderfressen problemlos heraus interpretieren und ein modernes Familiendrama stricken. Ist Dornröschens Fluch nicht eine Art Krankheit, die überwunden werden muss, um endlich ein glückliches und selbstbestimmtes Leben zu führen (mit oder ohne Mann)?
„Hans im Glück“ eröffnet unterdessen interessante Sichtweisen auf die freie Marktwirtschaft. Der Wolf aus „Rotkäppchen“ oder „Der Wolf und die sieben Geißlein“ kann als sehr realer Entführer bzw. Mörder interpretiert werden. Eine Vielzahl von Märchenfiguren, wie etwa König Drosselbart, begeht Identitätsbetrug aus den unterschiedlichsten Gründen, die sich in die Gegenwart übertragen lassen. Rumpelstilzchen ist ein Erpresser, der die Notlage einer Frau ausnutzt. Dass solche Themen heute keine Relevanz mehr haben, kann nun wirklich niemand behaupten.
Grimms Schätze
In dem Bestreben, sich von Märchen inspirieren zu lassen, ist es durchaus legitim, Rapunzel einfach mal in ihrem Turm und Dornröschen schlafen zu lassen. Es müssen nicht immer nur die berühmtesten Märchen sein. Allein in der Sammlung der Gebrüder Grimm finden sich viele Erzählungen, die keine allzu große Bekanntheit erlangt haben, aber Stoff für interessante Neuinterpretationen bieten. Da hätten wir „Herr Korbes“, ein skurriles und mörderisches Märchen über ein Hühnchen und ein Hähnchen, die mehrere Gegenstände und andere Tiere auflesen, um gemeinsam einen Mann zu töten. In „Die Hochzeit der Frau Füchsin“ sucht besagte Frau Füchsin nach einem Ersatz für ihren toten Ehemann und stellt ganz besondere Anforderungen, die eigentlich nicht jugendfrei sind. „Die weiße Schlange“ erzählt von einem Diener, der eine zubereitete weiße Schlange verzehrt und dadurch die Gabe erhält, mit Tieren zu sprechen. Er rettet mehrere Fische, Ameisen und Raben, die ihm helfen, das Herz einer Prinzessin zu erobern. In diesen Absurditäten verstecken sich so viele Möglichkeiten.
Freilich haben nicht nur die Gebrüder Grimm Märchen gesammelt. Auch Ludwig Bechstein war im 19. Jahrhundert diesbezüglich fleißig. Sein „Neues deutsches Märchenbuch“ enthält einige Erzählungen, die sich in den „Kinder- und Hausmärchen“ der Grimms nicht finden. Darunter das Märchen „Des kleinen Hirten Glückstraum“ über einen Jungen, der mit der Hilfe einer Hose, aus der Goldmünzen fallen, einem Hut, der schießen kann, einem Schwert, das Soldaten erschafft, und Siebenmeilenstiefeln König von Spanien wird. Wenn das nicht mal Inspiration für einen Roman über die katalanische Unabhängigkeitsbewegung in Spanien ist! So eine Hose hätte ich selbst gerne.