Von Zeus haben die meisten Menschen schon einmal gehört. Mit dem Begriff „Werwolf“ kann ohnehin fast jeder etwas anfangen und wer von uns weiß denn nicht, dass wir besser keiner schwarzen Katze unter eine Leiter hindurch folgen, nachdem wir gerade einen Spiegel zerbrochen haben? Hingegen fürchtet sich kaum jemand vor dem Tikbalang, hat jemals von Chacachacare gehört oder kann mit dem Namen Alexander Heron etwas anfangen.
Es gibt unzählige mythische Orte, spannende Sagen und abergläubische Geschichten, die kaum bekannt sind, zumindest nicht in dem, was wir die westliche Welt nennen. Selbst in der griechischen Mythologie, die vermutlich der bekannteste Sagenkreis überhaupt ist, verstecken sich noch so manche Geschichten, die bisher wenig Beachtung gefunden haben. Realistisch betrachtet – so realistisch wird es in diesem gesamten Beitrag nicht mehr – muss ein Mensch natürlich nicht jede kleine Sagenfigur und jeden jemals von jemandem geglaubten Mythos kennen, um als gebildet zu gelten. Aus der Perspektive des unnützen Wissens betrachtet sind Mythen und Sagen gerade deshalb wahre Goldgruben.
Von Australien bis Afrika
Die Regenbogenschlange
In der Mythologie der australischen Ureinwohner, der Aborigines, spielt die Regenbogenschlange eine zentrale Rolle. Je nach Region in Australien trägt die Regenbogenschlange verschiedene Namen und weist einige unterschiedliche Eigenschaften auf, sie gilt aber grundsätzlich als ein Schöpferwesen, das den Regen bringt, Flüsse, Berge und Täler erschafft und in Trockenzeiten die wenigen Wasserlöcher kontrolliert. Sie verkörpert die große Bedeutung, die das Wasser für menschliches Leben hat. Die Regenbogenschlange ist ein häufiges Motiv in der australischen Kunst.
Es ist kaum zu glauben, dass eine glitschige, unheimliche Schlange, die beispielsweise im Christentum nicht die schmeichelhafteste Rolle spielt, und ein reiner, wunderschöner Regenbogen zu einem Wesen verschmelzen können, aber in Australien geht das. In der Mythologie eines Landes spiegeln sich immer die Bedingungen wider, unter denen die Menschen dort lebten und leben. Für die Aborigines war Dürre eine wiederkehrende Bedrohung und Wasser ein kostbares Gut. Beides gilt heute genau genommen noch immer, nur mit mehr wissenschaftlichem Hintergrund. Wenn ich allerdings am Verdursten wäre, würde es mich nicht kümmern, ob ich Wasser aus einer elektrischen Anlage oder von einer glitzernden Regenbogenschlange bekäme.
Der verfluchte Geologe
Als Geologe und Direktor des Geological Survey of India war der Brite Alexander Heron ein Mann der Wissenschaft. Seine Expedition zum Mount Everest im Jahr 1921 ließ ihn jedoch mit einer Welt jenseits der Schulbücher kollidieren. Die tibetischen Behörden warfen ihm vor, während der Expedition wertvolle Steine geborgen und so die Dämonen des Berges erzürnt zu haben. Das zumindest hatten die Mönche des Rongpu-Klosters den Behörden gemeldet. Herons Versuche, sich zu verteidigen, bestanden in erster Linie darin, den Glauben der buddhistischen Mönche ins Lächerliche zu ziehen, was wenig hilfreich war. Die britische Regierung war not amused über diesen Ärger rund um ihren Staatsbürger. Heron durfte an der folgenden Expedition zum Mount Everest nicht mehr wie geplant teilnehmen. Die britischen Behörden verhinderten so eine diplomatische Krise mit Tibet – und mit den Dämonen.
Es kann doch nicht wahr sein, dass ein renommierter Wissenschaftler aufgrund des Aberglaubens einiger weltfremder Bergmönche an seiner Arbeit gehindert wird. Das ist eine mögliche Sichtweise. Eine andere wäre: Es kann doch nicht wahr sein, dass ein renommierter Wissenschaftler nicht in der Lage ist, eine andere Kultur und Religion zu respektieren und sich angemessen den Gepflogenheiten des Ortes, den er untersucht, anzupassen.
Das große Fressen
Er hat es nicht zu so sprichwörtlicher Berühmtheit gebracht wie ein Tantalus mit seinen Qualen oder ein Achilles mit seiner Ferse, aber auch ein gewisser Erysichthon besitzt seinen Platz in der griechischen Mythologie. Er wird beschrieben als König von Thessalien, der den Zorn der Göttin Demeter auf sich gezogen hat, indem er eine ihrer heiligen Eichen fällte. Zur Strafe wurde er mit einem brennenden Hunger belegt, der nicht zu stillen war. Je mehr er aß, desto stärker quälte ihn der Hunger. Er verkaufte seine eigene Tochter, welche die Gabe besaß, Tiergestalt anzunehmen, in die Sklaverei, damit sie fliehen und er sie immer wieder verkaufen konnte. All das Geld reichte aber nicht, um seinem Hunger Herr zu werden. Er aß sich schließlich selbst auf.
Unfassbar, was früher für Strafen wegen illegaler Abholzung verhängt wurden. Das wäre heute vielleicht sogar ein probates Mittel, um Umweltsündern zu begegnen. Die Götter der griechischen Mythologie waren nicht zimperlich, wenn sie sich beleidigt fühlten, das steht fest. Einen Menschen dazu zu bringen, sich selbst aufzuessen, erreicht schon ein ziemlich hohes Level auf der göttlichen Fiesheitsskala. Wenngleich der Name Erysichthon wohl nur echten Kennern der griechischen Mythologie ein Begriff, hat das Motiv des tödlichen Heißhungers seinen Weg in die moderne Horrorliteratur gefunden und wurde unter anderem schon von Stephen King verwendet.
Die Insel der Aussätzigen
Im Jahr 1999 plante Donald Trump, damals noch nicht US-Präsident, ein Casino mit Hotel auf der Insel Chacachacare zu errichten. Das allein ist allerdings nicht der Grund, warum abergläubische Menschen dieses zu Trinidad und Tobago gehörende Eiland meiden und wenn überhaupt nur tagsüber betreten. Auf Chacachacare soll es spuken! Einst befand sich hier eine Leprakolonie, die 1984 aufgegeben wurde. Seitdem heißt es, dass die Geister der Leprakranken auf der Insel ihr Unwesen treiben.
Unglaublich, wie viel Glück die Geister hatten, der Präsenz von Donald Trump gerade noch entgangen zu sein. Warum sollte man überhaupt ein Casino mit Hotel auf der heute unbewohnten „Insel der Aussätzigen“ bauen wollen? Nun, die Überreste der Leprakolonie und die Spukgeschichten sind ein Touristenmagnet. Tagesausflüge auf die kleine Insel verkaufen sich nicht schlecht. Wer sonst schon fast überall war und von klassischen Urlaubsorten angeödet ist, der dürfte Chacachacare als durchaus reizvoll empfinden.
Das Werpferd
Keine Lust mehr auf die immer gleichen Namen und Geschichten im Fantasygenre? Dann lohnt sich ein Blick in die philippinische Mythologie. Zu jener gehört der Tikbalang, ein Wesen mit dem Kopf eines Pferdes und dem Körper eines Menschen. Der Tikbalang wird oft als dämonisches Wesen von großer Bosheit beschrieben, das, obwohl nur der Kopf und nicht der Körper von einem Pferd stammt, sehr schnell ist. Aus der chinesischen Folklore ist ein ähnliches Wesen bekannt, das möglicherweise die Vorlage zum Tikbalang lieferte.
Man glaubt es kaum, aber die Philippinen haben damit quasi einen umgedrehten Zentaur. Der Zentaur ist in der griechischen Mythologie ein Wesen mit dem Oberkörper und Kopf eines Menschen und dem Unterleib eines Pferdes. Beim Tikbalang ist es eben genau andersherum. Zwar möchte ich weder einem Zentaur noch einem Tikbalang begegnen, aber ich glaube, ein Tikbalang wäre irgendwie beängstigender. Allein schon die Kommunikation dürfte einige Schwierigkeiten bereiten.
Das Chamäleon und die Eidechse
Ein interessanter Mythos um das ewige Leben stammt aus Südafrika vom Volk der Ndebele. Demnach sandte der Gott Zimu ein Chamäleon und eine Eidechse zu den Menschen, um über Leben und Tod zu berichten. Während das Chamäleon die Nachricht überbringen sollte, die Menschen würden nach dem Tod wiederauferstehen, sollte die Eidechse erzählen, dass der Tod das endgültige Ende eines jeden Menschen bedeute. Da das Chamäleon langsamer war als die Eidechse, erreichte die Nachricht vom finalen Tod die Menschen zuerst. Als das Chamäleon schließlich bei den Menschen eintraf, glaubten diese bereits an die Aussage der Eidechse. Von dem Tag an war der Tod endgültig.
Man mag es kaum glauben, aber das trödelnde Chamäleon hat uns die Unsterblichkeit gekostet! In einer etwas anderen Version dieses Mythos hatten die afrikanischen Götter nur das Chamäleon mit der Nachricht von der Unsterblichkeit der Menschen ausgesandt, doch aus Ärger über die Langsamkeit des Chamäleons, das mehr Zeit mit Fressen als mit Laufen verbrachte, schickten die Götter einen Vogel mit der gegenteiligen Botschaft hinterher, die dann eher bei den Menschen ankam.