Der Mordfall JonBenét Ramsey gehört zu den bekanntesten und mysteriösesten Verbrechen der jüngeren amerikanischen Kriminalgeschichte. An den Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1996 wurde die sechsjährige JonBenét, die durch zahlreiche „Little Miss“-Wettbewerbe eine Person des öffentlichen Lebens war, ermordet in ihrem Elternhaus in Boulder, Colorado aufgefunden.
Bis heute ist der Mordfall ungeklärt. Unter Verdacht stehen und standen ihre Eltern, ihr älterer Bruder, ein pädophiler Ex-Lehrer und diverse andere Personen. War JonBenéts Tod die Folge einer fehlgeschlagenen Entführung mit Lösegelderpressung, wie ein dubioses Schreiben nahelegt, das im Haus gefunden wurde, oder operiert(e) ein Kinderpornoring in Boulder? Hat JonBenéts Mutter die Nerven verloren, weil ihre als perfektes Püppchen zurechtgemachte Tochter eben doch nur ein kleines Kind mit Fehlern und Bedürfnissen war, oder ist das Mädchen der Eifersucht des damals neunjährigen Bruders zum Opfer gefallen? Es gab in diesem Fall immer sehr viel mehr Fragen als Antworten.
Eine Meta-Dokumentation
„Casting JonBenet“, Ende April 2017 auf Netflix gestartet, nähert sich dem Fall auf eine ganz andere, außergewöhnliche Weise. Die Dokumentation der Australierin Kitty Green nimmt die Zuschauer mit auf die Meta-Ebene. Es geht nicht primär um den Fall an sich, sondern darum, wie er wahrgenommen wird und wie Menschen sich verhalten, wenn sie die Chance haben, die damals beteiligten Personen in einem Spielfilm darzustellen.
Für eine angebliche Verfilmung des Falls werden verschiedene Laiendarsteller aus Boulder und Umgebung interviewt. Während diese Menschen versuchen, in die Rollen von JonBenéts Eltern, von Tatverdächtigen und den ermittelnden Beamten zu schlüpfen, geben sie ihre Sicht der Dinge wieder. Sie erzählen, welche Erinnerungen sie selbst mit dem Fall, der sich in ihrem direkten Umfeld zugetragen hat, verbinden. Je länger sie in den Kulissen des Ramsey-Hauses, eines Verhörraumes oder einer Gefängniszelle drehen, desto mehr offenbaren sie persönliche Schicksale, die sie auf die eine oder andere Weise mit den Charakteren, die sie spielen sollen, mitfühlen lassen.
Die andere Seite
„Casting JonBenet“ ist kaum mit üblichen Dokumentationen über Kriminalfälle vergleichbar. Die knapp 80-minütige Produktion ist ein spannendes, emotionales und ästhetisches Experiment. Wir erleben eine neue Perspektive. Wer hin und wieder Dokus oder Nachrichtenmagazine schaut, dem ist das Prinzip nachgestellter Ereignisse nicht fremd. Fast täglich können wir im TV (auf Streamingplattformen sowieso) Produktionen sehen, in denen mehr oder weniger begabte Schauspieler echte Mordfälle, historische Momente oder reale Katastrophen nachstellen. Das ist ein wichtiges Stilmittel, um die Lücken zu füllen, die der Mangel an Originalaufnahmen hinterlässt. Schon allein aus Kostengründen werden dafür selten gestandene Schauspieler engagiert.
So vertraut uns dieses Konzept der filmischen Nachstellung ist, so selten denken wir darüber nach, wie es für die Schauspieler sein muss, solche Sachen zu drehen, wie sie über diese Mordfälle denken und welche Verbindung sie möglicherweise zu den Verbrechen haben, weil sie aus der betroffenen Gegend stammen oder selbst schon Opfer waren.
Das macht „Casting JonBenet“ so interessant. Was eine Darstellung eines bekannten Mordfalls sein könnte, und teilweise auch ist, wird vor allem zu einer Darstellung der Darstellung eines bekannten Mordfalls. Wirklich sehenswert.