Ein Verbrechen kann ganze Jahrhunderte umspannen. Am 2. März 1879 wurde die ehemalige Lehrerin und zweifach verwitwete Julia Martha Thomas im Londoner Stadtteil Richmond von ihrer Hausangestellten Kate Webster ermordet. Nur Teile der Leiche tauchten damals auf, der Schädel blieb verschwunden. Der Fall, der zu seiner Zeit große Aufmerksamkeit erregte, gelangte zurück ins Bewusstsein der Menschen, als der Kopf der getöteten Frau doch noch gefunden wurde – am 22. Oktober 2010.
Kate Websters Mord an Julia Martha Thomas, auch als Richmond Murder und Barnes Mystery bekannt, besitzt die richtigen Zutaten für eine filmische Umsetzung, wie sie einem anderen realen Mord aus dem 19. Jahrhundert, begangen von der Hausangestellten Grace Marks, mit der Miniserie „Alias Grace“ zuteil wurde. Tatsächlich bestehen einige Parallelen zwischen Kate Webster und Grace Marks. Beide übten den gleichen Beruf aus, waren irischer Herkunft und wurden der Ermordung ihrer jeweiligen Arbeitgeber angeklagt. Für Grace Marks ging die Geschichte allerdings besser aus. Ihr Todesurteil wurde in Haft umgewandelt und sie kam nach 30 Jahren frei. Kate Webster starb am Galgen.
Zwei Frauen in London
Die beiden Hauptfiguren des Richmond-Mordes, Julia Martha Thomas und Kate Webster, waren keine einfachen Persönlichkeiten. Mrs. Thomas gehörte der Mittelschicht an, bemühte sich aber, größeren Wohlstand zu vermitteln. Dies schloss die Beschäftigung einer Hausangestellten ein. Aus zeitgenössischen Berichten geht hervor, dass die frühere Lehrerin von ihren Nachbarn als exzentrisch empfunden wurde und keine Angestellten lange bei ihr blieben. Kate Websters Biographie ist lückenhaft und basiert zum Teil auf ihren eigenen, nicht nachprüfbaren Aussagen. So soll sie mit einem Seefahrer verheiratet gewesen sein, der genau wie ihre vier gemeinsamen Kinder früh starb. Später brachte sie noch einen Sohn, John, zur Welt, dessen Vater unbekannt ist. Als sicher gilt, dass sie bereits in ihrer Jugend in die Kriminalität rutschte und sowohl in Irland als auch in England mehrfach wegen Diebstahls zu Gefängnisstrafen verurteilt wurde. Ihr Mädchenname war Catherine Lawler.
Im Januar 1879 stellte Julia Martha Thomas die etwa zwanzig Jahre jüngere Kate Webster als Hausangestellte ein, ohne deren Vergangenheit überprüft zu haben. Das Verhältnis der beiden Frauen verschlechterte sich sehr schnell. Kate Webster gab später an, dass sie sich von ihrer Chefin gegängelt fühlte. In ihrem Tagebuch hielt Mrs. Thomas ihre Entscheidung fest, die Hausangestellte zu feuern.
Der letzte Arbeitstag
Kate Webster überzeugte ihre Chefin davon, sie noch bis zum 2. März zu beschäftigen. An besagtem 2. März hatte Kate einen halben Tag frei, kehrte aber nach einem Kneipenbesuch zu spät an ihren Arbeitsplatz zurück. Auf einer Veranstaltung regte sich Mrs. Thomas vernehmbar über ihre Noch-Angestellte auf. Was kurz darauf in Mrs. Thomas‘ Haus geschah, schilderte Kate Webster in ihrem finalen Geständnis, unmittelbar vor ihrer Hinrichtung, so:
Mrs. Thomas kam herein und ging nach oben. Ich folgte ihr und wir hatten eine Diskussion, die zu einem Streit geriet. Auf dem Höhepunkt meines Zorns und meiner Wut warf ich sie vom oberen Ende der Treppe nach unten. Sie stürzte heftig und ich war aufgeregt über das Geschehene und verlor die Kontrolle über mich selbst. Um sie daran zu hindern, zu schreien und mich in Schwierigkeiten zu bringen, packte ich sie an der Kehle. In dem Kampf wurde sie erstickt und ich warf sie auf den Boden.
Anschließend zerstückelte Kate die Leiche und kochte die Teile, um eine Identifikation zu erschweren. Die Nachbarn nahmen zwar einen furchtbaren Geruch wahr, schoben dies aber darauf, dass wohl gerade die Wäsche gewaschen wurde. (Ich möchte gar nicht wissen, wie die Schmutzwäsche damals gerochen haben muss, dass so eine Verwechslung überhaupt möglich war). Später entsorgte Kate die Leichenteile getrennt. Den Kopf vergrub sie und ließ ihn so für 131 Jahre verschwinden. Andere Teile wurden entdeckt, konnten aber zunächst nicht identifiziert werden. Sie wurden anonym auf dem Barnes Friedhof bestattet und von der Presse als Barnes Mystery bezeichnet.
Derweil reiste Kate am 4. März zu alten Freunden, denen gegenüber sie angab, nun „Mrs. Thomas“ zu sein, da sie geheiratet hätte, aber wieder verwitwet sei. Weiterhin behauptete sie, von einer Tante ein Haus geerbt zu haben. In der Folgezeit gab sich Kate gegenüber Fremden immer wieder als Mrs. Thomas aus, in deren Haus sie weiterhin lebte. Am 9. März verkaufte sie die Möbel ihrer toten Chefin an einen Mann namens John Church. Als Mr. Church die Möbel abholen lassen wollte und die misstrauisch gewordenen Nachbarn mit dem Fahrer sprachen, der Kate Webster als „Mrs. Thomas“ identifizierte, flog der Schwindel auf. Kate floh mit ihrem Sohn zurück nach Irland, wurde aber am 29. März aufgegriffen und wieder nach London gebracht. Ihr Sohn kam zunächst in ein Arbeitshaus, bis ein Platz in einer Schule gefunden werden konnte.
Vorsätzlich böse
Der Gerichtsprozess war ein großes Spektakel, das in England und Irland viel Aufsehen erregte und in einer Dubliner Zeitung als „eines der sensationellsten und schrecklichsten Kapitel in den Annalen der menschlichen Bosheit“ bezeichnet wurde. Sogar der Kronprinz von Schweden und spätere König Gustaf V. verfolgte einen Prozesstag live. Die Presse zeichnete ein sehr negatives Bild von Kate Webster als bösartige, heimtückische Person, die nicht nur einen brutalen Mord begangen hat, sondern sich danach auch für ihr Opfer ausgab und der klassenbewussten Gesellschaft damit eine schockierende Botschaft sendete: Mit den richtigen Klamotten und Besitztümern kann sich jeder Mensch für gutbürgerlich ausgeben, egal, aus welchem Stand er wirklich kommt. Einige Prozessbeobachter sprachen Kate Webster quasi die Menschlichkeit ab. Es förderte ihre Chancen vor Gericht nicht gerade, dass sie eine Frau, Irin und eine unverheiratete Mutter war.
Im Prozess wurde der Angeklagten vor allem die Aussage der Hutmacherin Maria Durden zum Verhängnis, die erklärte, Kate habe ihr eine Woche vor dem Mord angekündigt, nach Birmingham fahren zu wollen, um Schmuck und ein Haus zu verkaufen, das ihre Tante ihr hinterlassen habe. Die Jury interpretierte daraus, dass der Mord nicht im Affekt geschah, sondern von langer Hand geplant war. Kates Versuche, die Tat auf Bekannte wie John Church, dem sie Mrs. Thomas Möbel verkauft hatte, zu schieben, war ebenso vergeblich wie ihre Erklärung, sie sei schwanger. Ob sie tatsächlich ein Kind erwartet hat oder nicht, blieb unbeantwortet. Bevor sie am 29. Juli 1879 gehängt wurde, legte sie ein volles Geständnis ab, mit der oben zitierten Aussage zum Tathergang.
Das finale Puzzleteil
Am 22. Oktober 2010 entdeckten Bauarbeiter, die im Auftrag des britischen Tierfilmers David Attenborough einen verfallenen Pub in der Nähe des damaligen Mordhauses sanieren sollten, einen menschlichen Schädel. Untersuchungen ergaben, dass sein Zustand mit den Aussagen von Kate Webster übereinstimmte: Der Schädel wies Bruchstellen wie nach einem Treppensturz auf und war gekocht worden. Die Kohlenstoffdatierung bestimmte den Schädel auf eine Zeit nach 1650 und vor 1880. Es gilt als relativ sicher, dass es sich bei den Knochen um die des Mordopfers aus dem Jahr 1879 handelt. Eine zweifelsfreie Identifizierung ist jedoch nicht möglich, da keine lebenden Verwandten von Julia Martha Thomas bekannt sind. Sie starb kinderlos.
Links & Literatur
- The Barnes Mystery
- Castleden, Rodney: Serial Killers: They Live to Kill, 2005
- D’Cruze, Shani; Walklate, Sandra; Pegg, Samantha: Murder: Social and historical approaches to understanding murder and murderers, 2006
- Bailey, Brian J.:Hangman: From Ketch to Pierrepoint, 300 years of execution, 1993